Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke

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Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke - Rainer Maria  Rilke


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Feiger fragte,

       so schwelgtest du in Schweigsamkeit.

      Du bist der Wald der Widersprüche.

       Ich darf dich wiegen wie ein Kind,

       und doch vollziehn sich deine Flüche,

       die über Völkern furchtbar sind.

      Dir ward das erste Buch geschrieben,

       das erste Bild versuchte dich,

       du warst im Leiden und im Lieben,

       dein Ernst war wie aus Erz getrieben

       auf jeder Stirn, die mit den sieben

       erfüllten Tagen dich verglich.

      Du gingst in Tausenden verloren,

       und alle Opfer wurden kalt;

       bis du in hohen Kirchenchoren

       dich rührtest hinter goldnen Toren;

       und eine Bangnis, die geboren,

       umgürtete dich mit Gestalt.

      Ich weiß: Du bist der Rätselhafte,

       um den die Zeit in Zögern stand.

       O wie so schön ich dich erschaffte

       in einer Stunde, die mich straffte,

       in einer Hoffahrt meiner Hand.

      Ich zeichnete viel ziere Risse,

       behorchte alle Hindernisse, –

       dann wurden mir die Pläne krank:

       es wirrten sich wie Dorngerank

       die Linien und die Ovale,

       bis tief in mir mit einem Male

       aus einem Griff ins Ungewisse

       die frommste aller Formen sprang.

      Ich kann mein Werk nicht überschaun

       und fühle doch: es steht vollendet.

       Aber, die Augen abgewendet,

       will ich es immer wieder baun.

      So ist mein Tagwerk, über dem

       mein Schatten liegt wie eine Schale.

       Und bin ich auch wie Laub und Lehm,

       sooft ich bete oder male

       ist Sonntag, und ich bin im Tale

       ein jubelndes Jerusalem.

      Ich bin die stolze Stadt des Herrn

       und sage ihn mit hundert Zungen;

       in mir ist Davids Dank verklungen:

       ich lag in Harfendämmerungen

       und atmete den Abendstern.

      Nach Aufgang gehen meine Gassen.

       Und ich bin lang vom Volk verlassen,

       so ists: damit ich größer bin.

       Ich höre jeden in mir schreiten

       und breite meine Einsamkeiten

       von Anbeginn zu Anbeginn.

      Ihr vielen unbestürmten Städte,

       habt ihr euch nie den Feind ersehnt?

       O daß er euch belagert hätte

       ein langes schwankendes Jahrzehnt.

      Bis ihr ihn trostlos und in Trauern,

       bis daß ihr hungernd ihn ertrugt;

       er liegt wie Landschaft vor den Mauern,

       denn also weiß er auszudauern

       um jene, die er heimgesucht.

      Schaut aus vom Rande eurer Dächer:

       da lagert er und wird nicht matt

       und wird nicht weniger und schwächer

       und schickt nicht Droher und Versprecher

       und Überreder in die Stadt.

      Er ist der große Mauerbrecher,

       der eine stumme Arbeit hat.

      Ich komme aus meinen Schwingen heim,

       mit denen ich mich verlor.

       Ich war Gesang, und Gott, der Reim,

       rauscht noch in meinem Ohr.

      Ich werde wieder still und schlicht,

       und meine Stimme steht;

       es senkte sich mein Angesicht

       zu besserem Gebet.

       Den andern war ich wie ein Wind,

       da ich sie rüttelnd rief.

       Weit war ich, wo die Engel sind,

       hoch, wo das Licht in Nichts zerrinnt –

       Gott aber dunkel tief.

      Die Engel sind das letzte Wehn

       an seines Wipfels Saum;

       daß sie aus seinen Ästen gehn,

       ist ihnen wie ein Traum.

       Sie glauben dort dem Lichte mehr

       als Gottes schwarzer Kraft,

       es flüchtete sich Lucifer

       in ihre Nachbarschaft.

      Er ist der Fürst im Land des Lichts,

       und seine Stirne steht

       so steil am großen Glanz des Nichts,

       daß er, versengten Angesichts,

       nach Finsternissen fleht.

       Er ist der helle Gott der Zeit,

       zu dem sie laut erwacht,

       und weil er oft in Schmerzen schreit

       und oft in Schmerzen lacht,

       glaubt sie an seine Seligkeit

       und hangt an seiner Macht.

      Die Zeit ist wie ein welker Rand

       an einem Buchenblatt.

       Sie ist das glänzende Gewand,

       das Gott verworfen hat,

       als Er, der immer Tiefe war,

       ermüdete des Flugs

       und sich verbarg vor jedem Jahr,

       bis ihm sein wurzelhaftes Haar

       durch alle Dinge wuchs.

      Du wirst nur mit der Tat erfaßt,

       mit Händen nur erhellt;

       ein jeder Sinn ist nur ein Gast

       und sehnt sich aus der Welt.

      Ersonnen ist ein jeder Sinn,

       man fühlt den feinen Saum darin

       und daß ihn einer spann:

       Du aber kommst und gibst dich hin

       und fällst den Flüchtling an.

      Ich will nicht wissen, wo du bist,

       sprich mir aus überall.

       Dein williger Euangelist

       verzeichnet alles und vergißt

       zu schauen nach dem Schall.

      Ich geh doch immer auf dich zu

       mit meinem ganzen Gehn;

       denn wer bin ich und wer bist du,

       wenn wir uns nicht verstehn?

      Mein Leben hat das gleiche Kleid und Haar

       wie aller alten Zaren Sterbestunde.

       Die Macht entfremdete nur meinem Munde,

       doch meine Reiche, die ich schweigend runde,

       versammeln sich in meinem Hintergrunde

      


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