Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke

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Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke - Rainer Maria  Rilke


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Was ist die Welt?

       Sie wird zerschlagen

       eh deine Türme Kuppeln tragen,

       eh aus Meilen von Mosaik

       deine strahlende Stirne stieg.

      Aber manchmal im Traum

       kann ich deinen Raum

       überschaun,

       tief vom Beginne

       bis zu des Daches goldenem Grate.

      Und ich seh: meine Sinne

       bilden und baun

       die letzten Zierate.

      Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,

       weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.

       Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:

       wenn ein Gebirge Gold hat

       und keiner mehr es ergraben mag,

       trägt es einmal der Fluß zutag,

       der in die Stille der Steine greift,

       der vollen.

      Auch wenn wir nicht wollen:

       Gott reift.

      Wer seines Lebens viele Widersinne

       versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,

       der drängt

       die Lärmenden aus dem Palast,

       wird anders festlich, und du bist der Gast,

       den er an sanften Abenden empfängt.

      Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,

       die ruhige Mitte seinen Monologen;

       und jeder Kreis, um dich gezogen,

       spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.

      Was irren meine Hände in den Pinseln ?

       Wenn ich dich male, Gott, du merkst es kaum.

      Ich fühle dich. An meiner Sinne Saum

       beginnst du zögernd, wie mit vielen Inseln,

       und deinen Augen, welche niemals blinseln,

       bin ich der Raum.

      Du bist nichtmehr inmitten deines Glanzes,

       wo alle Linien des Engeltanzes

       die Fernen dir verbrauchen wie Musik, du

       wohnst in deinem allerletzten Haus.

       Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus,

       weil ich mich sinnend dir verschwieg.

      Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht

       mit allen meinen Sinnen an dir branden?

       Meine Gefühle, welche Flügel fanden,

       umkreisen weiß dein Angesicht.

       Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht

       vor dir in einem Kleid aus Stille steht?

       Reift nicht mein mailiches Gebet

       an deinem Blicke wie an einem Baum?

      Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum.

       Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille

       und werde mächtig aller Herrlichkeit

       und runde mich wie eine Sternenstille

       über der wunderlichen Stadt der Zeit.

      Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,

       darin du mich so eilen siehst.

       Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,

       ich bin nur einer meiner vielen Munde

       und jener, welcher sich am frühsten schließt.

      Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,

       die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:

       denn der Ton Tod will sich erhöhn –

      Aber im dunklen Intervall versöhnen

       sich beide zitternd.

      Und das Lied bleibt: schön.

      Wenn ich gewachsen wäre irgendwo,

       wo leichtere Tage sind und schlanke Stunden,

       ich hätte dir ein großes Fest erfunden,

       und meine Hände hielten dich nicht so.

       wie sie dich manchmal halten, bang und hart.

      Dort hätte ich gewagt, dich zu vergeuden,

       du grenzenlose Gegenwart.

       Wie einen Ball

       hätt ich dich in alle wogenden Freuden

       hineingeschleudert, daß einer dich finge

       und deinem Fall

       mit hohen Händen entgegenspringe,

       du Ding der Dinge.

      Ich hätte dich wie eine Klinge

       blitzen lassen.

       Vom goldensten Ringe

       ließ ich dein Feuer umfassen,

       und er müßte mirs halten

       über die weißeste Hand.

      Gemalt hätt ich dich: nicht an die Wand,

       an den Himmel selber von Rand zu Rand,

       und hätt dich gebildet, wie ein Gigant

       dich bilden würde: als Berg, als Brand,

       als Samum, wachsend aus Wüstensand –

      oder

       es kann auch sein: ich fand

       dich einmal…

       Meine Freunde sind weit,

       ich höre kaum noch ihr Lachen schallen;

       und du: du bist aus dem Nest gefallen,

       bist ein junger Vogel mit gelben Krallen

       und großen Augen und tust mir leid.

       (Meine Hand ist dir viel zu breit.)

       Und ich heb mit dem Finger vom Quell einen Tropfen

       und lausche, ob du ihn lechzend langst,

       und ich fühle dein Herz und meines klopfen

       und beide aus Angst.

      Ich finde dich in allen diesen Dingen,

       denen ich gut und wie ein Bruder bin;

       als Samen sonnst du dich in den geringen

       und in den großen gibst du groß dich hin.

      Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,

       daß sie so dienend durch die Dinge gehn:

       in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte

       und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.

      Stimme eines jungen Bruders

      Ich verrinne, ich verrinne

       wie Sand, der durch Finger rinnt.

       Ich habe auf einmal so viele Sinne,

       die alle anders durstig sind.

       Ich fühle mich an hundert Stellen

       schwellen und schmerzen.

       Aber am meisten mitten im Herzen.

      Ich möchte sterben. Laß mich allein.

       Ich glaube, es wird mir gelingen,

       so bange zu sein,

       daß mir die Pulse zerspringen.

      Sieh, Gott,


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