Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke

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Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke - Rainer Maria  Rilke


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Man sah nach ihr; sie schaute ängstlich hin,

       weit vorgeneigt, als fühlte sie: ich bin

       sein längster Schmerz –: und stürzte plötzlich vor.

       Die Engel aber nahmen sie zu sich

       und stützten sie und sangen seliglich

       und trugen sie das letzte Stück empor.

       III

      DOCH vor dem Apostel Thomas, der

       kam, da es zu spät war, trat der schnelle

       längst darauf gefaßte Engel her

       und befahl an der Begräbnisstelle.

      Dräng den Stein beiseite. Willst du wissen,

       wo die ist, die dir das Herz bewegt:

       Sieh: sie ward wie ein Lavendelkissen

       eine Weile da hineingelegt,

      daß die Erde künftig nach ihr rieche

       in den Falten wie ein feines Tuch.

       Alles Tote (fühlst du), alles Sieche

       ist betäubt von ihrem Wohl-Geruch.

      Schau den Leinwand: wo ist eine Bleiche,

       wo er blendend wird und geht nicht ein?

       Dieses Licht aus dieser reinen Leiche

       War ihm klärender als Sonnenschein.

      Staunst du nicht, wie sanft sie ihm entging?

       Fast als wär sie’s noch, nichts ist verschoben.

       Doch die Himmel sind erschüttert oben:

       Mann, knie hin und sieh mir nach und sing.

      Das Stunden-Buch

       Inhaltsverzeichnis

       Erstes Buch Das Buch vom mönchischen Leben

       Zweites Buch Das Buch von der Pilgerschaft

       Drittes Buch Das Buch von der Armut und vom Tode

      enthaltend die drei Bücher

      Vom mönchischen Leben

       Von der Pilgerschaft

       Von der Armut und vom Tode

      *

      Gelegt in die Hände von Lou

      Erstes Buch:

       Das Buch vom mönchischen Leben

       Inhaltsverzeichnis

      (1899)

      Da neigt sich die Stunde und rührt mich an

       mit klarem, metallenem Schlag:

       mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann –

       und ich fasse den plastischen Tag.

      Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,

       ein jedes Werden stand still.

       Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut

       kommt jedem das Ding, das er will.

      Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem

       und mal es auf Goldgrund und groß,

       und halte es hoch, und ich weiß nicht wem

       löst es die Seele los…

      Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

       die sich über die Dinge ziehn.

       Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

       aber versuchen will ich ihn.

      Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

       und ich kreise jahrtausendelang;

       und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm

       oder ein großer Gesang.

      Ich habe viele Brüder in Sutanen

       im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht.

       Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen,

       und träume oft von jungen Tizianen,

       durch die der Gott in Gluten geht.

      Doch wie ich mich auch in mich selber neige:

       Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe

       von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.

       Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe,

       mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige

       tief unten ruhn und nur im Winde winken.

      Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen,

       du Dämmernde, aus der der Morgen stieg.

       Wir holen aus den alten Farbenschalen

       die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,

       mit denen dich der Heilige verschwieg.

      Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;

       so daß schon tausend Mauern um dich stehn.

       Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,

       sooft dich unsre Herzen offen sehn.

      Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,

       in welchen meine Sinne sich vertiefen;

       in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,

       mein täglich Leben schon gelebt gefunden

       und wie Legende weit und überwunden.

      Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum

       zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.

      Und manchmal bin ich wie der Baum,

       der, reif und rauschend, über einem Grabe

       den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe

       (um den sich seine warmen Wurzeln drängen)

       verlor in Traurigkeiten und Gesängen.

      Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal

       in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, so

       ists, weil ich dich selten atmen höre

       und weiß: Du bist allein im Saal.

       Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,

       um deinem Tasten einen Trank zu reichen:

       Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.

       Ich bin ganz nah.

      Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,

       durch Zufall; denn es könnte sein:

       ein Rufen deines oder meines Munds –

       und sie bricht ein

       ganz ohne Lärm und Laut.

      Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

      Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.

       Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,

       mit welchem meine Tiefe dich erkennt,

       vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

      Und


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