Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Er genoß selbstherrlich das Spiel seiner Muskeln. Wie unverständlich waren die Menschen! All dieser Mord und Schmerz kam daher, daß sie nicht das teilnahmslose Licht in sich herrschen ließen, sondern das dumme unordentliche Dunkel. So einfach, so leicht überwindbar war diese schwarze und weiße Lunawelt. Sich als Nichts im Nichts fühlen, das war alles. Eine kleine schmunzelnde Sympathiewelle für Krikor von Yoghonoluk, den niemand je zitiert hat und je zitieren wird! Gonzague mußte einen nackten Felsen entlangklettern und über zwei Spalten hinwegsetzen. Schon sah er die vorspringende Nase vor sich, jenseits deren der Abstieg begann. Einen Augenblick stand er still, um zu rasten. Die unermeßliche Tiefe öffnete sich unter ihm: Ob ich nach Suedja komme, gleichgültig, ob ich abstürze, gleichgültig! Es ging ihm durch den Kopf: Zuerst fällt man hart, zuletzt fällt man weich. Wie weit war Juliette schon zurückgeblieben! Als Gonzague wiederum in Gehölz und Buschwerk einbog, fielen knapp hintereinander vier Schüsse und peitschten an ihm vorbei. Er warf sich sofort zu Boden und entsicherte seinen Revolver. Sein Herz klopfte rasend. Die Warnung! Es war eben doch nicht gleichgültig, ob er nach Suedja kam oder nicht. Die suchenden Schritte der Rächer strauchelten an ihm vorbei: Gonzague aber sprang auf, packte einen großen Stein und schleuderte ihn im weiten Bogen hinab. Unten entstand ein eilendes Geknacke und Gepolter. Die Verfolger glaubten dem Opfer auf der Spur zu sein und jagten ihm wieder mehrere Kugeln nach, indes Gonzague davonstürmte und wie im Fluge den Punkt erreichte, wo sich der Berg gegen das Dorf Habaste herabsenkt. Laut atmend blieb er stehn. Es ist besser so. Die armenischen Kugeln hatten den letzten Hauch des Schuldgefühls weggefegt. Er lächelte. Seine Augen unter den stumpf gegeneinandergestellten Brauen waren voll Aufmerksamkeit und kühler Werbung vorwärtsgerichtet.

      In denselben Minuten schwebte Juliette unruhig zwischen Ohnmacht und Besinnung. Hatte jemand »ja, schlafe, schlaf nur, Juliette« gesagt? Und wessen Stimme? Und nun? Noch einmal, oder jetzt erst?

      »Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«

      Sie öffnete die Augen. Das war doch nicht ihr Schlafzimmer. Dreißig Sekunden noch und sie hatte das Zelt erkannt und Gabriel und Iskuhi. Sie konnte die Zunge kaum bewegen. Ihr Gaumen, ihr Rachen waren ohne jedes Gefühl. Die Menschen störten sie in ihrer Einsamkeit. Die Menschen ließen sie nicht in Ruhe. Sie wandte ihren bergschweren Kopf zur Seite:

      »Warum laßt ihr denn die Lampe brennen ... Löscht doch aus ... Das Petroleum riecht ... so unangenehm ...«

      Juliettens Augen erstarrten. Sie hatten gesucht, was nicht zu finden war. Da wurde ihr auf einmal etwas Fürchterliches ganz bewußt. Sie schien alle ihre Kräfte wieder zu haben und völlig gesund zu sein. Die Decke abwerfend, fuhr sie mit beiden Beinen aus dem Bett und schrie:

      »Stephan! ... Wo ist Stephan? ... Stephan soll kommen ...«

      Gabriel und Iskuhi zwangen Juliette, die sich verzweifelt wehrte, wieder ins Bett zurück. Gabriel streichelte sie beruhigend und redete ihr zu:

      »Du bist krank, Juliette ... Stephan darf nicht zu dir kommen. Es wäre gefährlich für ihn ... Du mußt vernünftig sein!«

      Ihr ganzes Leben, Hören und Begreifen lag aber nur in den gellenden Schreien, die sie unaufhörlich ausstieß:

      »Stephan ... Stephan ... Wo ...«

      Der überbewußte Schreck, der aus der Kranken schrillte, übertrug sich plötzlich auf Gabriel. Er riß den Türvorhang zur Seite und stürzte durch die helle Nacht zum Scheichzelt, wo Stephan sein Nachtlager hatte. Das Zelt war leer. Bagradian zündete ein Licht an. Tot lag das Bett Monsieur Gonzagues da. Sein Inhaber hatte es in der peinlichsten Ordnung zurückgelassen. So glatt und genau sah es aus, als wäre es seit Wochen nicht benützt worden. Nicht so jedoch Stephans Bett, auf dem ein wüstverkommenes Leben herrschte. Die Laken hingen herunter. Auf der Matratze lag der geöffnete Koffer des Jungen, aus dem Kleider, Hemden, Strümpfe in bunter Wirrnis hervorquollen. Die Proviantkiste in der Ecke war aufgebrochen und unachtsam beraubt worden, denn ein paar Sardinenbüchsen blinkten auf der Erde. Der Rucksack Stephans, eine Erwerbung aus der Schweiz, fehlte. Doch auch von Gabriels Sachen war die Thermosflasche, die er erst gestern aufs Tischchen gestellt hatte, unauffindbar verschwunden. Nachdem er den Raum noch einmal genau nach allen Spuren abgesucht hatte, ging er langsam in die Nacht zurück, blieb draußen mit leichtgeneigtem Kopf stehen und dachte nach. Er suchte nach Erklärungen. Wahrscheinlich wieder ein ausbrecherischer Streich, den die verfluchten Bengel ausgeheckt hatten. Alles aber, was an dieser Erklärung gutartig und hoffnungsvoll war, löste sich in seinem tieferen Wissen höhnisch auf. Große Ruhe kam über ihn, wie immer in entscheidenden Stunden. Auf dem Schlafplatz der Dienerschaft fand er nur Kristaphor. Er rief den Verwalter an:

      »Kristaphor, auf! Wir müssen Awakian wecken. Vielleicht weiß er etwas. Stephan ist fort.«

      Diese Worte wurden ohne Erregung gesprochen. Der bekümmerte Verwalter wunderte sich über die Gelassenheit seines Herrn, nach all dem, was sich zugetragen hatte. Sie nahmen den Weg gegen den Nordsattel, um Samuel Awakian aufzufinden. Eine Sekunde lang drehte sich Gabriel nach Juliettens Zelt unentschlossen um. Dort war alles still geworden. Dann schritt er so rasch vorwärts, daß ihm Kristaphor kaum folgen konnte.

      Drittes Buch

       Untergang – Rettung – Untergang

       Inhaltsverzeichnis

      »Dem Sieger werde ich von dem verborgenen Manna geben

       und werde ihm einen weißen Stein geben

       und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben,

       den niemand kennt als nur der, welcher ihn empfängt.«

       Offenbarung Johannis 2, 17

      Erstes Kapitel

       Zwischenspiel der Götter

       Inhaltsverzeichnis

      »Hier, mein verehrter Herr Doktor Lepsius, sehen Sie nur einen kleinen Teil unsres Aktenbestandes in der armenischen Sache ...«

      Der liebenswürdige Geheimrat legte seine blanke schöngeäderte Marmorhand auf den staubigen Papierbau, der den Schreibtisch so hoch bedeckt, daß sein edles Pferdegesicht immer wieder dahinter verschwindet. Das hohe Fenster des auffällig leeren Zimmerchens steht weit offen. Aus dem Garten des Auswärtigen Amtes dringt dunstig schlaffe Sommerluft in den Raum. Johannes Lepsius sitzt ziemlich steif auf dem Besucherplatz mit dem Hut auf den Knien. Seit seiner denkwürdigen Unterredung mit Enver Pascha ist kaum mehr als ein Monat vergangen, und doch hat sich das Aussehen des Pastors in beängstigender Weise verändert. Sein Haar scheint schütterer, sein Bart grauer, die Nase kürzer und spitzer geworden zu sein. Die Augen strahlen nicht mehr. Die träumerische Weite ist aus ihnen verschwunden und hat einem abwartenden und spöttischen Argwohn Platz gemacht. Kann die Krankheit seines Blutes in diesen wenigen Tagen so bedenklich fortgeschritten sein? Ist es der armenische Fluch, der in geheimnisvoller Verbundenheit ihn, den Deutschen, mit verzehrt? Ist es die unermeßliche Arbeit, die er in kurzer Zeit geleistet hat? Schon steht das neue Hilfswerk gegen Tod und Teufel auf festen Füßen. Sogar Geld ist da, und die besten Menschen sind gewonnen. Es gilt nun, das Sphinxrätsel der Staatsmacht zu lösen. Der Blick des Pastors gleitet hinter dem aufblitzenden Zwicker verächtlich über den Aktenberg. Der liebenswürdige Geheimrat zieht die Augenbrauen hoch, nicht aus Verwunderung, sondern um sein goldgefaßtes Einglas fallen zu lassen:

      »Es vergeht kein Tag, glauben Sie mir, an dem nicht eine Mahnung an die Botschaft in Konstantinopel aus dem Hause gesandt wird. Und es vergeht keine Stunde, in der nicht der Botschafter bei Talaat und Enver in dieser scheußlichen Angelegenheit interveniert. Trotz der größten Sorgen ist der Herr Reichskanzler persönlich mit dem größten Eifer dahinter. Sie kennen ihn ja, er ist ein Mann wie Marc Aurel ... Ich darf übrigens Herrn von Bethmann-Hollweg bei Ihnen entschuldigen, Herr Doktor Lepsius. Es war ihm heute leider unmöglich, Sie zu empfangen ...«

      Lepsius lehnt sich weit zurück. Auch seine klangvolle Stimme ist müder


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