Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Obgleich Nezimi kein ausgesprochener Freund der Armenier zu sein scheint, tobt er doch gegen die Verschickungspolitik des Komitees:

      »An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehn.«

      Lepsius zuckt bei seinen Worten mit keiner Miene:

      »Hinter Enver und Talaat steht doch die große Mehrheit der Nation.«

      »Wie? Die große Mehrheit der Nation?« fährt Nezimi auf. »Ihr Ausländer wißt ja gar nicht, wie klein diese Partei in Wirklichkeit ist, wie moralisch klein vor allem. Sie besteht aus dem schäbigsten Parvenugesindel. Wenn sich diese Leute etwas auf ihre osmanische Rasse einbilden, so ist das die größte Unverschämtheit, die es gibt. Diese Reinblütigen kommen zumeist aus dem mazedonischen Mischtopf, in dem das Rassenragout des ganzen Balkans schwimmt.«

      »Das ist eine alte Sache, Professor. Auf Rasse berufen sich meist nur diejenigen, die etwas Ähnliches nötig hätten.«

      Nezimi sieht Lepsius mit traurigen Augen an:

      »Es ist ein Unglück, daß ein Mann wie Sie, der unsere Verhältnisse so genau studiert hat, doch keine Ahnung vom wahren türkischen Wesen besitzt. Wissen Sie, daß die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?«

      Johannes Lepsius horcht gespannt auf:

      »Und wer sind diese wahren Türken, wenn ich fragen darf, Professor?«

      »Alle, die ihre Religion noch nicht verloren haben«, sagt Nezimi, läßt sich aber auf eine nähere Erklärung nicht ein. Am Abend desselben Tages klopft er an die Tür des Pastors. Er macht einen sonderbar erregten Eindruck:

      »Ich werde Sie, wenn Sie einverstanden sind, morgen in das Tekkeh des Scheichs Achmed einführen. Es ist ein großes Geschenk, das Sie damit bekommen. Und dann. Sie werden wegen der Armenier offen reden können und vielleicht auch etwas ausrichten.« Und er wiederholt noch einmal: »Es ist ein Geschenk für Sie.«

      Gleich nach Tisch holt Nezimi den Pastor ab, wie sie es vereinbart haben. Der weite Weg wird größtenteils zu Fuß zurückgelegt. Heute ist die Sommerhitze durch eine kühle Brise vom Marmarameer gemildert. Über den lebendigen Nachmittagshimmel Stambuls ziehen Scharen von Störchen und Fischreihern, die drüben auf der asiatischen Seite nisten. Der Professor führt den Pastor am Seraskeriat Enver Paschas und an der Sultan-Bajazid-Moschee vorbei in die langen Straßenzüge von Ak Serai. Endlos zieht sich der Weg westwärts. Schon geraten sie in das ruinenhafte Gewirr der innersten Stadt. Die Pflasterung der Gassen verschwindet. Schaf- und Ziegenherden begegnen ihnen. Aus dem schwärzlichen Durcheinander zahlloser Holzhäuser ragt die uralte byzantinische Stadtmauer mit ihren Zinnen, Türmen und Vesten drohend empor. Johannes Lepsius ist durchaus nicht in der Stimmung, sich mit seinem künstlerischen Auge dieser romantischen, wenn auch mißduftenden Stadtschaft zu erfreuen. Auch jener Mittelpunkt der islamischen Frömmigkeit, den er heute kennenlernen soll, interessiert ihn nicht um neuer Erfahrungen willen. Wie jeder Geist, der von einem übermächtig quälenden Streben ausgefüllt ist, setzt er alles einzig und allein in Beziehung zu dem armenischen Unglück. Er ist also keineswegs empfänglich für neues Erleben, sondern wälzt bereits Pläne und Entwürfe. Diese Entwürfe und nicht etwa Neugier sind der Grund für die Fragen, die er seinem Begleiter stellt:

      »Wir gehen wohl zu den Mewlewi-Derwischen?«

      Lepsius weiß trotz seiner langen Aufenthalte in Palästina und Kleinasien so gut wie gar nichts vom Islam. Er sieht in ihm nur den fanatischen Feind des Christentums. Da es aber eine der trübsten menschlichen Schwächen ist, denjenigen, welchen man aus seinem innersten Inneren heraus verstehen müßte, den Feind, am allerwenigsten zu kennen, so hat auch der Pastor kaum eine blasse Vorstellung von der moslemischen Glaubenswelt. Er nennt die Mewlewi-Derwische nur, weil dieser sehr bekannte Name ihm geläufig ist. Doktor Nezimi macht eine fast wegwerfende Geste:

      »Nein, nein! Scheich Achmed, unser Meister, ist das Haupt eines Ordens, den das Volk ›Die Herzensdiebe‹ nennt.«

      »Ein komischer Ordenstitel. Warum die ›Herzensdiebe‹?«

      »Das werden Sie später selbst sehen ...«

      Während des Ganges läßt sich aber der Führer doch noch zu einigen Erklärungen herbei. Er unterrichtet den Deutschen darüber, daß der Strom der Mohammed-Religion sich in zwei gewaltige Arme geteilt habe, in das Schaariat und das Tarikaat. Entspreche das Schaariat ziemlich genau dem Begriff der katholischen Weltpriesterschaft, so werde das Tarikaat durch den Vergleich mit dem Mönchsrum verfälscht. Derwisch sein heiße nicht der Welt entsagen und sich fürs ganze Leben in ein Tekkeh zurückzuziehen. Derwisch könne jeder werden und sein, der gewisse Bedingungen erfülle, er brauche sein Berufs- und Familienleben darum nicht aufzugeben: der Großwesir ebenso wie der Schneider, Kupferschmied, Bankbeamte oder Offizier. So seien denn auch die verschiedensten Bruderschaften über das ganze Land verbreitet, und die Brüder erkennen einander überall »aus dem Gefühl«, ohne einander zu kennen. Johannes Lepsius fragt mit zweckhafter Nachdenklichkeit:

      »Demnach müssen diese Derwisch-Orden zahlenmäßig eine große Macht vorstellen.«

      »Nicht nur zahlenmäßig, mein Herr Doktor, das können Sie mir glauben.«

      »Und woraus besteht das Gottesleben dieser Leute?«

      »Bei euch nennt man das, wie man mir gesagt hat, Exerzitien. Aber wahrscheinlich ist auch dieser Ausdruck falsch. Wir versammeln uns von Zeit zu Zeit. Es werden Übungen abgehalten. Gebetsübungen! ›Zikr‹ nennt man das. Jeder muß auch einmal oder mehrere Male im Leben Dienst in dem Tekkeh tun und dort längere Zeit leben. Die Hauptsache aber ist, daß wir unserm Lehrer und Meister aus der Fülle des Herzens heraus gehorsam sind.«

      »Ihr Lehrer und Meister ist der Scheich Achmed, Professor ...«

      Obgleich Lepsius nicht offen fragt, wer dieser Scheich Achmed, eigentlich sei, gibt Nezimi doch Antwort:

      »Er ist ein Weli. Ihr würdet sagen ein Heiliger, und diese Übersetzung ist wieder ganz falsch. Er hat durch sein Leben, das höher steht als das Leben der Menschen, Kräfte in sich entwickelt. Kennen Sie den französischen Ausdruck: Initiation? Und das Herrlichste an ihm, Sie werden es sehen, er ist ein ganz einfacher Mensch.«

      Sie bleiben vor einer hohen Mauer stehn. Die Wipfel von Zypressen und Feigenbäumen, überhängender Goldlack und Glyzinien verraten einen Garten. Nezimi Bey klopft mit seinem Stock an die wurmstichige Pforte in dieser Mauer. Man muß lange warten. Dann öffnet ein alter Mann mit einem schweren Körper und milden, liebevollen Augen. Das dunkle Wunder des Gartens tut sich auf. Eine vielhundertjährige Zeder beherrscht alles. Von zwei mächtigen Ästen hängen die rostigen Stücke einer schweren Kette herab. Nezimi erzählt dem Pastor, daß vor undenklichen Zeiten die Zeder in ihrer Jugend gefesselt war, bis die innere Kraft des Wachstums die Eisenkette zersprengte. Ein Sinnbild des Derwischlebens. In die aus dem Stadtlärm sonderbar ausgesparte Stille tönt ein Brunnenstrahl. Und dies wieder ist ein ergreifendes Sinnbild für die türkische Wasserverehrung. Der Garten wird rechts von einem dunkeln unheimlichen Haus und links von einem hellen und guten begrenzt. Sie treten in das gute Holzhaus ein, nachdem sie die Schuhe abgelegt haben. Nezimi führt den Fremden über eine kleine finstere Treppe in eine Art von Loge, die auf den großen Saal des Tekkeh hinausblickt, der mit seinen schlanken Holzpflastern und den in der Höhe filigranhaft durchbrochenen Wänden den Eindruck eines umfänglichen Pavillons erweckt. Die Holzdiele des Raumes bedecken die schönsten Teppiche. In die östliche Wand, Mekka zugekehrt, ist eine Thronnische mit einer erhöhten Matte eingebaut. Auf den Stufen zu beiden Seiten dieses Hochsitzes hocken einige Männer. Der Arzt bezeichnet sie als »Kalifen«, als Stellvertreter und Beauftragte des Scheichs, die seinem Herzen besonders nahestehen. Alle tragen den weißen Turban, selbst ein Infanteriehauptmann, der sich merkwürdigerweise unter diesen Gestalten befindet. Lepsius unterscheidet ferner einen kleinen spindeldürren Alten, der eine nervöse Krankheit haben muß, da sein spitzbärtiges Gesicht dann und wann von Zuckungen befallen wird. Einen auffallend schönen Mann mit weichem, braunem Bart, der in eine hemdartige Kutte gekleidet ist, nennt Nezimi »den Sohn des Scheichs«. Neben diesem jünglinghaften Mann, durch dessen Materie es silbern zu schimmern scheint, hockt auf gekreuzten Beinen ein fünfjähriger


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