Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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wäre für Sie am bekömmlichsten, eine Zeitlang auszuspannen und in den Tag hinein zu leben. Wohnen Sie nicht in Potsdam?«

      Johannes Lepsius bedauert, den Herrn Geheimrat so lange in Anspruch genommen zu haben. Dieser aber geleitet ihn mit dem reizendsten Lächeln zur Tür:

      »Aber nein, Herr Pastor, eine interessantere Stunde habe ich lange nicht erlebt.«

      Unten auf der mittagsschwülen Wilhelmstraße prüft sich Johannes Lepsius, ob er sich dem Herrnworte gemäß sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange verhalten habe. Er muß aber schnell erkennen, daß er sowohl als Taube wie auch als Schlange versagt hat. Zum Glück jedoch ist er vorsichtig genug gewesen, sich schon vor längerer Zeit alle nötigen Pässe, Sichtvermerke, Reiseerlaubnisse, Geldausfuhrbewilligungen zu beschaffen. Darum hat er vorhin seine linke Brustseite so eingehend nach diesen Heiligtümern betastet. Er dreht sich scharf um, ob ihn nicht jetzt schon ein Kriminalbeamter verfolge. Sein Entschluß ist gefaßt. Der D-Zug nach Basel geht um drei Uhr vierzig. Er hat noch mehr als drei Stunden Zeit, um nach Hause zu telefonieren, sein Gepäck kommen zu lassen und sich sonst auf die Reise vorzubereiten. Morgen schon können die Grenzen für ihn gesperrt sein. Doch er muß nach Stambul kommen! Dort gehört er hin, wenn er auch jetzt noch keine deutliche Vorstellung hat, warum. In Deutschland jedenfalls geht sein Hilfswerk auch ohne ihn weiter. Die Organisation ist geschaffen, das Büro eingerichtet, Gönner, Freunde, Mitarbeiter sind gewonnen. Sein Platz ist nicht in der gesicherten gleichgültigen Ferne, sondern an der Küste des Blutmeeres selbst.

      Auf dem Potsdamer Platz herrscht ein betäubender Verkehr. Der kurzsichtige Lepsius wartet lange auf eine Gelegenheit, heil auf die andre Seite zu kommen. Das Donnern, Rollen, Rattern, Kreischen der Autos, Autobusse und Straßenbahnen dröhnt als ein zusammengeschmolzener Ton an sein Ohr. Wie Glocken einer ungeheuren barbarischen Kathedrale. Ein kleines Gedicht fällt ihm ein, das er vor vielen Jahren an Bord des tanzenden Schiffleins niedergeschrieben hat, das ihn an dem Felseneiland Patmos-Patino vorübertrug, an der heiligen Insel des Apostels und Offenbarers Johannes. Jetzt tönt in ihm der Refrain auf:

      »A und O, A und O

       Läuten die Glocken von Patino.«

      Und dieser Versklang scheint zwei so gegensätzliche örtlichkeiten wie Patmos und Potsdamer Platz miteinander zu verbinden.

      Das Leben eines scheuen Nachttiers in Stambul.

      Johannes Lepsius weiß sich verfolgt und beobachtet. Er verläßt daher das Hotel Tokatlyan meist nur bei Nacht. Am ersten Tag seines Aufenthaltes hat er seinen Pflichtbesuch auf der deutschen Botschaft abgestattet. Anstatt des Ministers, des Botschaftssekretärs oder Presseattachés empfängt ihn ein untergeordneter Beamter mit der eindeutig dürren Frage, welche Absichten ihn nach Konstantinopel führen. Lepsius erwidert, er sei ohne bestimmten Zweck in dieser Stadt, die er sehr liebe, gekommen, nur um sich ein wenig zu erholen. Das mit dem mangelnden Ziel stimmt übrigens. Der Pastor hat keine bestimmte Vorstellung von dem, was er werde unternehmen können. Er weiß nur, daß er bei den Türken und nun auch bei den Deutschen verfemt ist. Jener vortreffliche Korvettenkapitän von der Botschaft zum Beispiel, der seine Unterredung mit Enver Pascha damals so mühsam zustande gebracht hat, begegnet ihm auf einer Straße von Pera und schaut auffällig fort. Gott weiß, was für niederträchtige Lügen über ihn im Schwange sind! Oft überläuft es ihn eisig bei dem Gedanken, daß er in der türkischen Hauptstadt ganz verlassen dasteht und an der Vertretung seines Heimatlandes nicht nur keinen Rückhalt, sondern fast einen Feind besitzt. Sollte Ittihad den guten Gedanken fassen, ihn um die Ecke zu bringen, ein großes diplomatisches Geräusch um seinen Leichnam würde nicht entstehen. In kleinmütigen Stunden denkt er an die Heimreise. Er verliert nur seine Zeit. Die dritte Augustwoche ist schon angebrochen. Unbeschreibliche Hitze brütet über dem Bosporus.

      Was will ich hier ausrichten, fragt er sich. Und dann vergleicht er seine Situation mit der eines ungeübten Einbrechers, der eine siebenfach versperrte Eisentür ohne Dietrich und Nachschlüssel nur mit der nackten Hand, dafür aber unter den Augen der Polizei aufzusprengen sucht. Dies aber ist klar. In die siebenfach versperrte Eisentür, die ins Innere führt, muß eine Bresche gelegt werden, sofern auch nur eine Spur wirklicher Hilfe möglich sein soll. All jene Gelder, die auf offiziellen Wegen ins Innere fließen, zerstäuben und bringen diese wirkliche Hilfe nicht.

      Johannes Lepsius wagt es, Monsignore Sawen, den armenischen Patriarchen, zu besuchen. Seit dem Tage, da er ihn zum letzten Male sah, scheint der letzte Rest von Leben aus der erloschenen Gestalt des Erzpriesters gewichen zu sein. Geistesabwesend starrt der fromme Mann seinen Besuch an. Als er ihn erkennt, kann er die Tränen nicht zurückhalten.

      »Sie werden sich schaden, mein Sohn«, flüstert er, »wenn man Sie bei mir weiß.«

      Der Pastor bekommt nun die Wahrheit in ihrem ganzen Grauen zu hören, so wie sie sich in den Wochen seiner Abwesenheit entwickelt hat. Der Patriarch berichtet ihm kurz und trocken, wie ohne Sprache gleichsam. Jeder Rettungsversuch ist nicht nur aussichtslos, sondern auch überflüssig, da die Aussiedlung nun völlig durchgeführt ist. Die Priesterschaft sei zum größten Teil, die politische Führerschaft zur Gänze ermordet. Das Volk bestehe nur mehr aus verhungernden Weibern und Kindern. Jede Unterstützung, die man von deutscher oder neutraler Seite diesen Armeniern zuwende, reize die Wut Envers und Talaats zu neuen Schreckenstaten auf:

      »Am besten, man unternimmt gar nichts, man bleibt still, man stirbt.«

      Ob Lepsius nicht bemerkt habe, daß dieses Haus, das Patriarchat, von Spitzeln und Konfidenten umlagert sei. Jedes Wort, das in diesem Zimmer falle, gelange morgen unausweichlich zur Kenntnis Talaat Beys. Mit entsetztem Augenzwinkern bittet Monsignore Sawen den Gast, das Ohr an seinen Mund zu neigen. Auf diese Weise erfährt Lepsius von der Armeniererhebung auf dem Musa Dagh, von den Niederlagen des türkischen Militärs und von der bisherigen Uneinnehmbarkeit des Berges. Die Flüsterstimme des Patriarchen zittert: »Ist es nicht schrecklich? Das Militär soll mehrere hundert Tote haben.«

      Johannes Lepsius findet das gar nicht schrecklich. Seine blauen Augen leuchten knabenhaft hinter seinem scharfen Zwicker:

      »Schrecklich? Nein, herrlich! Gäbe es noch drei solche Musa Dagh, die Sache würde anders aussehen. Ach, Monsignore, am liebsten wäre ich auf diesem Musa Dagh!«

      Der Pastor hat unachtsam laut gesprochen. Der Patriarch hält ihm mit angsterstarrter Gebärde den Mund zu. Beim Abschied übergibt ihm Lepsius einen Teil der Sammelgelder des deutschen Hilfswerkes. Sawen sperrt die Banknoten hastig in die Wertheimkasse seiner Kanzlei, als seien sie Feuer. Die Hoffnung ist nicht sehr groß, daß ihr Segen den Bestimmungsort Deïr es Zor erreicht. Der Monsignore flüstert dem Deutschen wieder etwas scharf ins Ohr, das dieser zuerst gar nicht begreift:

      »Nicht wir vom Patriarchat und nicht Sie und nicht andre Deutsche und keine Neutralen, man müßte Türken als Mittler und Helfer finden, verstehen Sie, Türken!«

      »Wieso denn Türken«, murmelt Lepsius leise und sieht Enver Paschas Gesicht vor sich. Die Idee ist verrückt.

      Die Idee ist verrückt. Und doch befindet sie sich schon über den Kopf von Lepsius hinweg auf dem Wege der Verwirklichung. Im Speisesaal seines Hotels hat der Pastor einen türkischen Arzt von ungefähr vierzig Jahren kennengelernt. Professor Nezimi Bey ist eine sehr elegante westliche Erscheinung. Er wohnt im Tokatlyan, hat aber seine Ordination in einer vornehmen Straße von Pera. Lepsius hält den Professor anfangs für eine der sympathischesten Verkörperungen der jungtürkischen Welt. Trotz der europäischen Wissenschaft und eines fabelhaft geschnittenen Gehrocks trügt jedoch dieser Schein. Die beiden Herren geraten öfters ins Gespräch. Drei- oder viermal nehmen sie die Mahlzeit an demselben Tisch ein. Lepsius ist äußerst vorsichtig und zurückhaltend; muß es sein. Der andre aber ist durchaus nicht vorsichtig und zurückhaltend. Als er seinen Haß gegen die herrschende politische Richtung, gegen die Diktatoren Enver und Talaat unverhohlen zu erkennen gibt, erschrickt der Deutsche und verstummt. Sollte man ihm einen Lockspitzel beigesellt haben? Wenn er aber die vornehme Gestalt des kultivierten Nezimi ansieht, wenn er seine Stellung, seine Ausdrucksweise, seine überraschende Sprachenkenntnis bedenkt, so erscheint der Argwohn lächerlich. Über Agents provocateur von solchem Rang kann Enver unmöglich gebieten. Dennoch ist Lepsius weise genug, sich nicht hervorlocken


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