Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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gewisse Ruhe. Der verzehrende Durst, der ihn soeben noch quälte, weicht von ihm. Er benützt die Zeit, sich hinter seinen geschlossenen Lidern zu sammeln und jene Gründe zurechtzulegen, mit denen er für die Armenier kämpfen will. Gott hat ihn auf wunderbare Weise hierhergeführt, wo er vielleicht ganz unerwartet Bundesgenossen findet. Der Wunsch Monsignore Sawens, nicht Deutsche und Neutrale, sondern Türken selbst möchten die Mittler sein, dieser absurde Wunsch, nun hat er einen Schein von Erfüllbarkeit bekommen. Als Lepsius die Augen wieder aufschlägt, erscheint ihm das Gesicht des alten Scheichs wie in warmes Sonnenlicht getaucht. Dieser läßt über das Ergebnis der Herzprobe nichts verlauten, sondern bittet den Pastor, er möge sagen, womit man ihm dienlich sein könne. Das große Gespräch beginnt.

      Johannes Lepsius ( anfangs findet er nur langsam und steif die türkischen Worte. Er sieht auch den Doktor Nezimi Bey öfters hilfesuchend an, damit er ihm mit dem entsprechenden Ausdruck beispringe):

      »Durch die große Güte von Scheich Achmed Effendi bin ich hier in diesem ehrwürdigen Tekkeh als Christ und Fremder ... Ich durfte sogar euren religiösen Übungen beiwohnen. Die Inbrunst und Innigkeit eures Strebens zu Gott hat mein Herz mit Freude erfüllt. Wenn ich als unwissender Ausländer den innersten Sinn eurer heiligen Bräuche auch nicht verstehen kann, so fühle ich doch eure große Frömmigkeit ... Um so schrecklicher aber scheint mir, angesichts dieser Frömmigkeit und Religiosität, was in eurem Vaterland geschieht und geschehen darf ...«

      Der junge Scheich ( holt sich mit einem fragenden Augenaufschlag von seinem Vater die Erlaubnis zu sprechen):

      »Wir wissen, daß du schon seit vielen Jahren ein warmer Freund der Ermeni millet bist ...«

      Johannes Lepsius: »Ich bin mehr als nur ihr Freund. Ich habe der Ermeni millet mein ganzes Leben und meine ganzen Kräfte gewidmet.«

      Der junge Scheich: »Und nun willst du uns wegen dieser Vorgänge anklagen?«

      Johannes Lepsius: »Ich bin ein Fremder. Ein Fremder hat nie und nirgends das Recht, anzuklagen. Ich bin nur hier, um zu klagen über das Geschehene und euren Rat und eure Hilfe zu erbitten.«

      Der junge Scheich ( mit einer deutlichen Hartnäckigkeit, die sich nicht durch feierliche Worte beruhigen läßt):

      »Und dennoch gibst du uns Osmanen insgesamt die Schuld an dem, was geschieht.«

      Johannes Lepsius: »Ein Volk besteht aus vielen Teilen. Aus der Regierung und ihren Organen. Aus den Klassen, die mit der Regierung gehen, und aus der Opposition.«

      Der junge Scheich: »Und welchen von diesen Teilen machst du verantwortlich?«

      Johannes Lepsius: »Ich kenne eure Verhältnisse seit zwanzig Jahren gut. Auch im Innern. Mit den Häuptern eurer Regierung habe ich verhandelt. Gott helfe mir, doch ich muß sagen, sie tragen allein die volle Schuld am Untergang eines unschuldigen Volkes.«

      Der Türbedar (hebt seinen verzehrten Fanatikerkopf mit den erbarmungslosen Augen. Sein Wesen und seine Stimme beherrschen sogleich den Raum):

      »Wer aber ist schuldig an der Regierung?«

      Johannes Lepsius: »Deine Frage verstehe ich nicht.«

      Der Türbedar: »So will ich dir eine andere stellen. Haben Osmanen und Armenier immer in Unfrieden gelebt? Oder hat es eine Zeit friedlichen Beisammenwohnens gegeben? Du kennst unsere Verhältnisse, so wirst du auch unsere Vergangenheit kennen.«

      Johannes Lepsius: »Meines Wissens haben die großen Metzeleien erst im vorigen Jahrhundert begonnen, nach dem Berliner Kongreß ...«

      Der Türbedar: »Du hast damit meine erste Frage beantwortet. Auf jenem Kongreß habt ihr Europäer euch in das innere Leben des Reiches gemengt, habt Reformen gefordert und uns für billiges Geld Allah und den Glauben abkaufen wollen. Die Armenier aber waren eure Geschäftsreisenden.«

      Johannes Lepsius: »Hat nicht die Zeit und die Entwicklung des Lebens diese Reformen dringender gefordert als Europa? Und es ist ja selbstverständlich, daß sich die Armenier als das schwächere und tätigere Volk nach ihnen gesehnt haben.«

      Der Türbedar ( glüht auf und erfüllt das ganze Zimmer mit seinem heiligen Zorn):

      »Wir aber wollen eure Reformen, eure Entwicklungen und eure Tätigkeiten nicht. Wir wollen in Gott leben und jene Kräfte in uns fördern, die Allah gehören. Weißt du nicht, daß alles, was ihr Tat und Tätigkeit nennt, der Teufel ist? Soll ich es dir beweisen? Ihr habt einige oberflächliche Erkenntnisse über das Wesen der chemischen Elemente. Was aber ist die Folge, wenn ihr diese mangelhaften Erkenntnisse in Taten und Tätigkeiten umsetzt? Die Erzeugung von Giftgasen, mit denen ihr eure hündisch feigen Kriege führt! Und ist es mit euren Flugzeugen etwa anders bestellt? Sie dienen euch dazu, ganze Städte in die Luft zu sprengen. In der Zwischenzeit aber befördern sie die Wucherer und Geschäftemacher, damit diese die Armut mit höchster Geschwindigkeit ausrauben dürfen. Eure ganze teuflische Unruhe zeigt uns, daß es keine Aktivität gibt, die nicht auf Zerstörung und Vernichtung hinausläuft. Wir hätten daher gern auf die Reformen, Entwicklungen und Segnungen eurer Kultur verzichtet, um in unsrer alten Armut und Ehrfurcht zu leben.«

      Der alte Scheich Achmed ( will einen versöhnlicheren Ton in das Gespräch bringen):

      »Gott hat seinen Trank in viele Gläser geschenkt und jedes hat eine andre Form.«

      Der Türbedar ( kann sich noch nicht beruhigen, da er für seinen abgrundtiefen Groll den richtigen Gegner gefunden zu haben glaubt):

      »Die Regierung ist an diesem blutigen Unrecht schuld, sagst du. Doch es ist in Wahrheit nicht unsre Regierung, sondern die eure. Bei euch ist sie in die Schule gegangen. Ihr habt sie in ihrem verbrecherischen Kampf gegen unsre heiligen Güter unterstützt. Eure Lehre und eure Gesinnung vollstreckt sie jetzt. Du mußt demnach erkennen, daß nicht wir Osmanen, sondern Europa und Europas Knechte am Schicksal des Volkes schuld haben, für das du kämpfst. Und den Armeniern geschieht nach Gerechtigkeit, denn sie haben jene abtrünnigen Verbrecher ins Land zurückgewünscht, sie gefördert und ihnen gehuldigt, damit sie jetzt von ihnen gefressen werden. Siehst du etwa nicht den Finger Gottes darin? Wo ihr und eure Schüler hinkommt, da bringt ihr die Verwesung mit. Ihr bekennt euch zwar heuchlerisch zu der Religion des Propheten Jesus Christus, doch im Grunde eurer Seele glaubt ihr nur an die stumpfen Mächte des Stoffes und an den ewigen Tod. So matt sind eure Herzen, daß sie nichts mehr von den Kräften Allahs wissen, die in ihnen ungenützt verdorren. Ja, der Tod ist eure Religion, und ganz Europa ist die Hure des Todes.«

      Der alte Scheich ( gebietet mit einem strengen Blick dem Türbedar, sich zu mäßigen. Dann streichelt er die Hand des Pastors, wie um ihn zu trösten und zu begütigen):

      »Alles liegt in Gottes Absicht.«

      Der junge Scheich: »Es ist wahr, Effendi. Du kannst es nicht leugnen, daß der Nationalismus, der heute bei uns herrscht, ein fremdes Gift ist, das aus Europa kam. Vor wenigen Jahrzehnten noch lebten unsre Völker treu unter der Fahne des Propheten: Türken, Araber, Kurden, Lasen und andre mehr. Der Geist des Korans glich die irdischen Unterschiede des Blutes aus. Heute sind auch schon die Araber, die sich wahrlich nicht zu beklagen haben, zu Nationalisten und unseren Feinden geworden.«

      Der alte Scheich: »Der Nationalismus füllt die brennend-leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurückläßt, wenn er daraus vertrieben wird. Und doch! Ohne seinen Willen kann er nicht vertrieben werden!«

      Johannes Lepsius ( sitzt als angeklagtes Europa auf seinen gekreuzten Beinen. Er verliert sein Ziel nicht aus den Augen. Freundlich nimmt er deshalb die Flüche des imposanten Türbedars aus Brussa entgegen. Sie tun ihm nicht halb so weh wie seine verrenkten Beine):

      »All das, was ich hier von euch zu hören bekomme, ist mir nicht neu. Ja, ich selbst habe oft ähnliche Worte zu meinen


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