Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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sich an Ter Haigasun:

      »Es ist nicht nur der Wille des Volkes dort draußen, das Ihnen die meisten Stimmen gegeben hat, Ter Haigasun, es ist der Wille von uns allen, den ich hier ausspreche: Wir bitten Sie, das Oberhaupt unseres Kampfes zu sein. Sie waren schon in friedlicher Zeit zum Führeramt eingesetzt und haben es bis heute als geistlicher Vorstand der Gemeinden aufopfernd erfüllt. Gott will es, daß sich Ihr Amt nun durch die Grausamkeit der Menschen erweitert. Wir wollen Ihnen alle in die Hand geloben, daß wir uns bei den Beschlüssen, die wir treffen, bei Vorkehrungen, die wir anordnen, Ihrem entscheidenden Wort ohne Widerspruch unterwerfen werden. Erst durch Ihre Stimme werden die Entschließungen des Führerrates Rechtmäßigkeit gewinnen und dadurch für unser ganzes Volk zu bindenden Gesetzen erhoben sein.«

      Die kleine Rede Bagradians brachte nur Selbstverständliches. Der oberste Rang kam niemandem andern zu als Ter Haigasun. Über diese feststehende Tatsache hätte nicht einmal Lehrer Hrand Oskanian eine heimliche Grimasse zu schneiden gewagt. Dennoch aber wirkten Gabriels Worte auf die Anwesenden angenehm, zumal auf jene, die ihm noch fremd und mißtrauisch gegenüberstanden. Diese angenehme Wirkung hatte zwei Ursachen. Manche wähnten nämlich, der landfremde »Franke« werde sich kraft seiner abendländischen Überheblichkeit die Rolle des Oberhauptes anmaßen. Und dann – dieser Grund war noch wichtiger – hatte Bagradians Ansprache sowohl in ihrer feierlichen Form als auch in ihrem rechtlichen Inhalt erst den Boden geschaffen, auf dem sich alles Künftige entwickeln konnte. Ganz unmerklich erfloß aus jenen wenigen Worten ein Staatsgrundgesetz für dieses neue Gemeinwesen, das in Bildung begriffen war. Zum Zeichen der Entgegennahme des Amtes und der schweren Verantwortung bekreuzigte sich Ter Haigasun schweigend. Von diesem Augenblick an gab es zwei legale Mächte, den Führerrat und das Volksoberhaupt, das zwar diesem Rate vorsaß, doch erst durch seine Anerkennung dessen Beschlüsse zum Gesetz erhob. Jeder einzelne Mann trat nun zu Ter Haigasun und küßte ihm nach der Sitte die Hand, wodurch er ihm seine Verehrung bezeigte und zugleich das Gelöbnis leistete. Erst nach dieser Zeremonie bildete sich ein großer Kreis um mehrere zusammengeschobene Tische. Gabriel Bagradian hatte vor sich die Kriegskarten und sämtliche Aufzeichnungen liegen. Hinter ihm nahm Samuel Awakian Platz, um immer bei der Hand zu sein. Nachdem Gabriel durch einen Blick das Wort erbeten hatte, erhob er sich:

      »Vor zwei Stunden ist die Sonne untergegangen, meine Freunde, in sechs Stunden geht sie wieder auf. Wir haben nur sechs kurze Stunden Zeit, um die ganze innere Arbeit fertigzustellen. Wenn wir nach dieser Nacht vor das Volk hinaustreten, darf es keine Unsicherheiten mehr geben. Unser Wille muß klar und eindeutig sein. Dieses aber ist das Notwendigste: Schon in den ersten Stunden des morgigen Tages sollen alle, die jung und kraftvoll sind, auf den Damlajik hinauf und mit dem Bau der Schanzwerke beginnen. Ich bitte euch daher, mit der Zeit hauszuhalten. Es ist ein Vorteil für uns alle, daß ich schon seit langem alle Fragen unserer Verteidigung durchgearbeitet habe und daher euch meine Vorschläge unterbreiten kann. Ich glaube, daß ihr in dieser Beratung am besten nach derselben Regel verfahrt wie bei euren Gemeindeabstimmungen. Ich bitte nun Ter Haigasun, meine Pläne entwickeln zu dürfen ...«

      Ter Haigasun schloß, wie es seine Art war, halb die Augen, wodurch sein Gesicht einen müden und gequälten Ausdruck bekam:

      »Hören wir Gabriel Bagradian!«

      Gabriel glättete die schönste von Awakians Karten:

      »Wir werden tausend Aufgaben zu lösen haben, doch wenn wir sie richtig erkennen, so sind alle Einzelheiten nur den beiden Hauptaufgaben untergeordnet. Die erste und heiligste ist der Kampf selbst. Auch die zweite Aufgabe, die innere Verfassung unseres Lebens, dient vor allem dem Kampf, über ihn will ich nun sprechen ...«

      Pastor Aram Tomasian winkte mit der Hand, um eine Unterbrechung der Rede bittend:

      »Wir wissen alle, daß Gabriel Bagradian als Offizier das Militärische am besten versteht. Die Führung im Kampfe ist sein Amt ...«

      Alle Arme erhoben sich, um diesen Antrag anzunehmen. Pastor Aram aber war noch nicht zu Ende:

      »Gabriel Bagradian hat den Verteidigungsplänen seit langer Zeit seine ganze Kraft gewidmet. Die Vorbereitung des Widerstandes ist in seinen Händen am besten aufgehoben. Doch um zu kämpfen, muß man zuerst leben. Ich schlage deshalb vor, daß wir die Besprechung des engeren Kriegsplans so lange verschieben, bis wir uns darüber klargeworden sind, auf welche Weise und wie lange ein Volk von fünftausend Menschen, von der Welt abgeschnitten, auf dem Damlajik leben kann.«

      Gabriel, der schon im schönsten Schwunge gewesen war, ließ die Karte enttäuscht auf den Tisch fallen:

      »Meine Ausführungen hätten zwar diese Frage mitberührt, da auf dieser Karte schon alles Lebensnotwendige eingezeichnet ist. Dennoch bin ich bereit, auf Pastor Tomasians Wunsch die Erörterung über die Kampforganisation zu verschieben ...«

      Bedros Altouni, der Arzt, hatte es nicht lange auf seinem parlamentarischen Sitz ausgehalten. Er wanderte brummend im Zimmer auf und ab, womit er wohl zu verstehen gab, daß er in dieser Stunde ungeheuerlichster Not Beratungen mit Handaufheben und Worterteilen für ein überflüssiges Männerspiel halte. Seine verknurrte Unruhe stach lebhaft von der erhabenen Teilnahmslosigkeit Apotheker Krikors ab, dessen starres Dasitzen die Frage zu stellen schien: Wann werde ich aus dieser peinlich barbarischen Unterbrechung zu den einzig mir gemäßen höchsten Gegenständen des Daseins unbelästigt heimkehren dürfen? Während seiner ärgerlichen Rundgänge warf der Arzt eine Bemerkung hin, die gar nicht zur Sache gehörte:

      »Fünftausend Menschen sind fünftausend Menschen, und Sonnenbrand und Wolkenbruch sind Sonnenbrand und Wolkenbruch.«

      Gabriel Bagradian, dem das Problem der Stadtmulde, der Behausungsart, des Gesundheitswesens und der Kinderversorgung schon schlaflose Nächte bereitet hatte, nahm die Bemerkung des Arztes auf:

      »Es wäre ratsam, wenigstens die Kinder von zwei bis sieben Jahren, um sie besser schützen zu können, in einer Sammelunterkunft zu vereinigen.«

      Hier belebte sich der bisher schweigsame Ter Haigasun, um Gabriels Einfall mit großer Entschiedenheit zurückzuweisen:

      »Das, was Gabriel Bagradian uns jetzt rät, würde der Beginn einer sehr gefährlichen Unordnung sein. Wir dürfen nicht auflösen, was Gott und die Zeit zusammengefügt haben. Im Gegenteil! Es ist höchst notwendig, daß die einzelnen Gemeinden, ja die einzelnen Familien voneinander dem Raum nach abgeschieden sind, so gut es eben geht. Jede Sippe soll ihre eigene Lagerstelle haben, jedes Dorf seinen eigenen Lagerplatz. Die Muchtars werden uns wie immer verantwortlich sein für die Ihren. So wenig wie möglich soll sich an den Verhältnissen ändern, die wir hier unten gewöhnt sind.«

      Nachdrückliche Zustimmung von allen Seiten, die zugleich einen kleinen Mißerfolg Bagradians bedeutete. Ter Haigasun hatte ihnen eine möglichst genaue Annäherung an das gewohnte Leben gewährleistet. Diese Aussicht befriedigte die Unglücklichen tief. Denn alle Grausamkeit, die über bäurische Menschen hereinbrechen kann, ist in dem Worte »Veränderung« enthalten. Gabriel aber gab sich so schnell nicht geschlagen. Er ließ die Karte mit der eingezeichneten Stadtmulde herumgehn. Jedermann kannte die großen Hutweiden der Gemeindeherden. Daß diese weiten, steinlosen Grasflächen für das Lager einzig in Betracht kamen, leuchtete allgemein ein. Sie hätten nicht nur für tausend, sondern auch für zweitausend Familien Platz geboten. Gabriel kam Ter Haigasuns Wünschen geschickt entgegen. Die Einteilung der Familien- und Gemeindelager könne sehr leicht nach dem Sinne des Priesters durchgeführt werden. Auch er teile die Ansicht Ter Haigasuns. Hingegen aber müsse eingesehen werden, daß nicht jede von den tausend Familien einzeln wirtschaften könne, sondern daß es ohne einen großen, gemeinsamen Haushalt nicht abgehen werde. Man berechne nur die Ersparnis an Nahrungs- und Feuermitteln, den Gewinn an freien Arbeitshänden. Abgesehen davon gebe es ja gar keine andre Möglichkeit, sich längere Zeit zu halten, als daß nach streng geregelter Vorschrift Vieh geschlachtet, Brot und Mehl verteilt, die Ziegenmilch an Kinder und Kranke ausgeschenkt werde. Um die heikle Frage des Eigentums komme man, trotz aller erdenklicher Sonderung des Familienlebens, keineswegs herum. Wie er, Bagradian, selbst seinen ganzen Besitz, soweit er sich erreichen und befördern lasse, zur Verfügung der Gemeinschaft stelle, alles Vieh, das zur Wirtschaft gehört, alle brauchbaren Vorräte in Haus und Keller – so werde auch jeder andere das Seine


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