Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Arme zur Verfügung waren, legte auch Ter Haigasun, der seine Kutte abgeworfen hatte, kräftig mit Hand an. Später wurden ein paar von den starken zottigen Eseln des Landes aus den Dörfern geholt, bis schließlich gegen Morgen unter Tschausch Nurhans Führung eine geheimnisvolle Karawane durch die toten Ortschaften Azir und Bitias sich auf den Bergpaß im Norden hinbewegte.

      Eine Stunde vor Sonnenaufgang erst kehrte Ter Haigasun in den Selamlik der Villa Bagradian zurück. Der Garten sah aus wie ein großes Schlachtfeld, übersät mit hingestreckten Körpern. Nicht einmal die Leute von Yoghonoluk waren nach Hause gegangen. Wie ein Feldherr durch die Reihen der Toten schreitet, so mußte Ter Haigasun über die regungslosen Schläfer steigen.

      Die Männer der einzelnen Ausschüsse hatten, durch Bagradians Energie ständig vorwärtsgehetzt, entsprechende Arbeit geleistet. In groben Umrissen standen die Kampf- und Lebensbedingungen fest. Schon waren die Namen der Kriegsmannschaften ausgeschrieben, die Mengen und Sorten der verfügbaren Nahrungsmittel annähernd berechnet. Ferner hatte man den Bau einer Laubhüttenstadt, die Errichtung eines Lazarettschuppens und einer größeren Regierungsbaracke vorgesehen. Nach Ter Haigasuns Rückkehr trat der große Rat noch einmal zusammen. Gabriel legte dem Volksoberhaupt die gefaßten Beschlüsse in kurzen Worten vor. Es war ihm gelungen, fast alle seine Ideen mit der tatkräftigen Unterstützung Aram Tomasians durchzusetzen. Ter Haigasun bestätigte sie mit halbgeschlossenen Augen und abwesenden Zügen, als glaube er nicht daran, daß sich das neue Leben in Beschlüsse fangen lasse. Die Kerzen und die Menschen waren schon tief herabgebrannt. Und doch zeigten ihre Augen noch immer mehr Erregung als Ermüdung. Als der göttliche Tag aufzublinzeln begann, verfiel alles in ein tiefes Schweigen. Die Männer sahen zu den Fenstern hinaus, in das zarte Licht, in die Morgenknospe, die sich Blatt um Blatt sichtbar entfaltete. Sonderbar erweitert funkelten die Pupillen. In dem übernächtigen Zimmer war kein anderer Laut zu hören als das Bleistiftgekritzel Awakians und des Gemeindeschreibers, die über die wichtigsten Entschließungen ein Protokoll aufgenommen hatten. Als schon das volle Sonnengold im Zimmer lag, machte der Hausherr der stummen Träumerei ein Ende:

      »Ich glaube, wir haben in dieser Nacht unsre Pflicht getan und nichts ist vergessen worden ...«

      »Nein! Eines ist vergessen worden, und zwar das Notwendigste!«

      Ter Haigasun blieb bei diesen Worten sitzen; der volle Klang seiner Stimme rief diejenigen zurück, die sich schon erhoben hatten. Der Priester schlug einen großen Blick auf. Jede Silbe betonte er:

      »Der Altar!«

      Dann fügte er mit gleichmütiger Sachlichkeit hinzu, daß in der Mitte der neuen Ansiedlung ein großer Altar aus Holz zu errichten sei, als heilige Stätte der Gottesdienste und Gebete.

      Um fünf Uhr – die Sonne stand schon hoch – betrat Gabriel das Wohnzimmer Juliettens im Oberstock. Er fand in dem Raum eine Anzahl von Menschen versammelt, die hier mit Madame Bagradian die Nacht durchwacht hatten. Stephan war trotz aller Bitten und Befehle seiner Mutter nicht zu Bett gegangen. Jetzt lag er auf dem Diwan, im Schlaf zusammengesunken. Juliette hatte über seinen Körper eine Decke gebreitet. Sie selbst lehnte am offenen Fenster, der Gesellschaft den Rücken kehrend. Jeder einzelne in diesem hellen Raum machte den Eindruck, als ob er ganz allein mit sich selbst sei. Iskuhi saß steif neben dem schlafenden Knaben. Howsannah, Pastor Tomasians Frau, die von Angst getrieben gegen Morgen ins Haus gekommen war, hatte auf einem Lehnstuhl Platz genommen und starrte vor sich hin. Mairik Antaram, von den Strapazen dieser Nacht am wenigsten erschöpft, lauschte an der offenen Tür dem Stimmengewirr der Beratung. Doch auch ein Mann war im Zimmer anwesend. Monsieur Gonzague Maris hatte während dieser langen Nacht den Frauen Gesellschaft geleistet. Obgleich ihn jetzt niemand beachtete, schien er doch der einzige zu sein, der nicht mit sich allein war. Sein präziser Scheitel glänzte, von der Nachtwache und den Ereignissen unberührt. Die aufmerksamen, ja gespannten Sammetaugen wanderten unter dem stumpfen Winkel der Brauen zwischen den Frauen hin und her. Er schien von den morgenfahlen Gesichtern jeden Wunsch ablesen zu wollen, um ihn sogleich ritterlich zu erfüllen.

      Gabriel machte zwei Schritte auf Juliette zu, blieb aber stehn und sah Gonzague an:

      »Ist es bestimmt wahr, daß Sie einen amerikanischen Paß besitzen?«

      Ein heiterer und leicht verächtlicher Zug schlüpfte um den Mund des jungen Griechen:

      »Wünschen Sie den Paß zu sehn, mein Herr? Vielleicht auch meine journalistische Legitimation?«

      Er griff mit spitz nachlässigen Fingern in seine Brusttasche. Gabriel bemerkte es nicht mehr. Er hatte Juliettens Hand erfaßt. Diese Hand war nicht nur kalt, sie war entseelt, oder besser, scheintot. Um so lebendiger aber spielten die Augen. Es war ein Gehen und Kommen in ihnen, Flut und Ebbe, wie immer in Zeiten des Konflikts. Auch spannte sie die Nasenflügel, ein Zeichen des Widerstandes, das Gabriel gut kannte. Das erstemal seit vierundzwanzig Stunden senkte sich jetzt eine Wolke der Ermattung über ihn. Er schwankte. Leer und hohl war es in seinem Innern. Unablässig forschten sie einer in des andern Augen, Mann und Weib. Wo war Gabriels Frau? Er spürte ihre Hand noch immer in der seinen wie ein Ding aus abweisendem Porzellan, aber sie selbst war ihm entglitten: wie viele Tagemärsche und Seereisen weit? Doch nicht nur von ihr zu ihm vergrößerte sich die raumfressende Entfernung sekündlich, sondern ebenso von ihm zu ihr. Auch er wurde sausend davongetragen. Hier stand Juliettens großer, schöner Leib, so nah, so ganz selbst. Tausendmal hatte Gabriel ihn umarmt. Jede Stelle mußte die Erinnerung seiner Küsse tragen, der lange Hals, die Schultern, die Brüste, Hüften, Schenkel und Knie, ja die Zehen der Füße. Dieser Leib hatte Stephan getragen, hatte für die Zukunft des Bagradianbluts gelitten. Und jetzt? Er vermochte ihn nicht zu erkennen. Die Vorstellung seiner Nacktheit war ihm verlorengegangen. Wie wenn einer seinen eigenen Namen vergißt, war das. Doch nicht genug damit, daß dort nur eine französische Dame stand, mit der man einst ein gemeinsames Leben geführt hatte – diese Dame war eine Feindin, sie hielt es mit der anderen Seite, auch sie saß im Rate der Ausrottung, obgleich sie eine armenische Mutter war. Gabriel fühlte etwas Großes, Rundes in seiner Kehle aufsteigen, ohne es recht zu merken. Erst im letzten Nu fing er das Würgende ab. Es verwandelte sich in ein Aufstöhnen:

      »Nein ... das ist nicht möglich ... Juliette ...«

      Sie neigte den Kopf tückisch zur Seite:

      »Was ist nicht möglich? ... Wie meinst du das?«

      Er glotzte aus dem Fenster ins Farbenjauchzen. Nichts konnte er unterscheiden. Da er seit so vielen Stunden unausgesetzt armenische Reden hatte halten müssen, zog sich die französische Sprache in seinem Bewußtsein beleidigt zurück. Er begann mit ungewohnt hartem Akzent zu stammeln, wodurch Juliette noch mehr zu vereisen schien:

      »Ich meine ... Du hast das Recht ... Ich glaube ... Du darfst nicht hereingerissen werden ... Wie kommst du dazu? ... Erinnere dich an unser Gespräch, damals ... Ich kann es nicht dulden ... Du mußt fort ... Du und Stephan ...«

      Sie schien ihre Worte genau zu wägen:

      »Ich erinnere mich sehr deutlich an dieses Gespräch ... So unerhört es auch ist, ich bin eurem Schicksal mit verfallen ... So habe ich es damals gesagt ...« Nie hatte sie solche Worte gebraucht, aber dies war gleichgültig. Sie warf einen vorwurfsvollen Blick auf Iskuhi und Howsannah, als erkenne sie in ihnen die Schuldigen an ihrer Mithaftung. Gabriel strich sich zweimal mit der Hand über die Augen, dann war er wieder der Mann und Führer der vergangenen Nacht:

      »Es gibt einen Ausweg für dich und Stephan ... Nicht leicht und gefahrlos ... Du aber bist sehr willensstark, Juliette.«

      In ihre Augen geriet ein scharfer, prüfender Ausdruck. Aufgestörte Tiere blicken so drein, ehe sie an einem Menschen oder an einer Gefahr vorbei mit einem langen Satz in die Freiheit schießen. Jetzt duckten sich vielleicht alle Fluchttriebe in Juliette zum Sprung. Doch kaum begann Gabriel zu sprechen, verlor sich die lauernde Spannung ihrer Miene, sie wurde wieder unsicher, gekränkt und tückisch.

      »Gonzague Maris wird uns heute oder morgen verlassen«, sagte Bagradian mit dem unwiderruflichen Ton eines Befehlshabers. »Er besitzt einen nordamerikanischen Paß, das ist unter diesen Umständen ein unschätzbares Glück. Sie werden sich gewiß nicht weigern, Maris, meine Frau und Stephan in Sicherheit zu bringen. Ihr nehmt den


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