Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel

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Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel


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Auch diese beiden mögen sich in euren Diensten retten. Über Sanderan und El-Maghara sind es nur fünf bis sechs Stunden nach Arsus; ich rechne damit, daß ihr den größten Teil dieses Weges im Schritt fahren müßt. Die fünfzehn englischen Meilen an der Küste von Arsus nach Alexandrette sind eine Kleinigkeit, weil ihr stundenlang über sandigen Strand traben könnt. In Arsus ist wahrscheinlich ein kleiner Militärposten stationiert. Für Maris wird es nicht schwer sein, den Onbaschi dort mit seinem Paß in Schreck zu versetzen ...«

      Verwalter Kristaphor war eingetreten, um sich nach den Befehlen der Herrin zu erkundigen. Gabriel wandte sich scharf an ihn:

      »Ist es möglich, mit dem Wagen in zehn Stunden über Arsus nach Alexandrette zu kommen, Kristaphor?«

      Der Verwalter riß betroffen die Augen auf:

      »Effendi, das hängt von den Türken ab.«

      Bagradians Stimme wurde noch schärfer:

      »Danach frage ich dich nicht, Kristaphor. Ich frage dich vielmehr: Getraust du dich, die Hanum, meinen Sohn und diesen amerikanischen Herrn hier nach Alexandrette zu bringen?«

      Die Stirn des Verwalters, der, obgleich erst vierzig Jahre, wie ein alter Mann aussah, begann zu schwitzen. Es war nicht klar, ob ihn die Furcht vor dem Wagnis oder die plötzliche Aussicht auf die eigene Rettung in solche Erregung versetzte. Seine Blicke wanderten zwischen Bagradian und Gonzague hin und her. Endlich zuckte es wie der Ansatz einer wilden Freude über seine Miene. Er unterdrückte aber diese Regung sofort, entweder aus Ehrfurcht oder um sich nicht zu verraten:

      »Ich getraue mich, Effendi! Wenn der Herr einen Paß hat, werden uns die Saptiehs nichts tun können ...«

      Nach dieser Erklärung schickte Gabriel den Kristaphor in die Küche, damit er dort für alle ein sehr ausgiebiges Frühstück zubereiten lasse. Dann setzte er Maris seine Aufgabe weiter auseinander: Leider gebe es in Alexandrette keinen amerikanischen Konsul, sondern nur einen deutschen und einen österreichisch-ungarischen Vizekonsul. Er habe schon vor längerer Zeit über diese beiden Männer Erkundigungen eingezogen. Der Deutsche heiße Hoffmann, der Österreicher Belfante, beide seien wohlgesinnte europäische Kaufleute, von denen man jede Hilfe erwarten könne. Da es sich aber immerhin um Verbündete der Türken handle, müsse man die größte Vorsicht walten lassen:

      »Ihr werdet irgendeine Geschichte erfinden ... Juliette ist Schweizerin und hat bei einem Reiseunfall ihren Paß verloren ... Die Vizekonsuln müssen für euch beim Platzkommandanten einen Reiseschein für die Eisenbahn erwirken ... Die Strecke nach Toprak Kaleh wird in den nächsten Tagen eröffnet ... Hoffmann und Belfante werden ja wissen, ob der Kommandant bestechlich ist ... Dann wäre alles gut!«

      All diese Fluchtweisungen hatte Gabriel in schlaflosen Nächten hundertmal erwogen, verworfen, ausgewechselt und wieder aufgenommen. Es gab ihrer mehrere Varianten, eine in der Richtung Aleppo, die andre mit dem Ziele Beirût. Dennoch klangen seine abgehackten Sätze wie unmittelbare Erfindungen. Juliette starrte ihn an, als fasse sie keines seiner Worte auf:

      »Sie müssen sich eine gute Geschichte ausdenken, Maris! ... Es wird nicht einfach sein, den Reiseunfall und Paßverlust glaubwürdig zu machen ... Doch das ist ja nicht die Hauptsache ... Juliette ... Die Hauptsache ist, daß du als unzweifelhafte Europäerin nicht in den Verdacht kommen wirst, zu uns zu gehören. Und darin liegt schon die Rettung ... Man wird dich für eine Abenteuerin und schlimmstenfalls für eine politische Agentin halten ... Diese Gefahren sind unbedingt da ... Du wirst aus diesen Gründen Unannehmlichkeiten und vielleicht sogar Leiden erdulden müssen ... Doch diese Leiden kommen, an unseren gemessen, kaum in Betracht ... Ununterbrochen mußt du dein großes Ziel vor Augen haben: Fort von hier! Fort von diesen Gottverfluchten, unter die ich unschuldig geraten bin!«

      Bei diesen Worten, die er laut hervorstieß, verlor Gabriels Gesicht seine zusammengekrampfte Fassung. Juliette bog ein wenig den Oberkörper zurück, als deute sie mit dieser unwillkürlichen Gebärde, die Absicht an, den Wunsch ihres Gatten zu erfüllen. Gonzague Maris machte ein leises Schrittchen auf das Ehepaar zu. Vielleicht wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß er sich bereit halte, den Entschlüssen aber durch seine Haltung nicht vorgreifen möchte. Alle andern schienen ihre starre Leblosigkeit zu übertreiben, um das Störende ihrer Zeugenschaft herabzumindern. Sogleich fand Gabriel seine Selbstbeherrschung wieder:

      »Es verkehren zwar nur mehr militärische Garnituren ... Ihr müßt die Eisenbahnoffiziere auf jedem Streckenteil bestechen ... Das sind zumeist alte Leute, die in früheren Formen leben und mit Ittihad nichts zu tun haben ... Wenn ihr einmal im Zug sitzet, ist schon viel gewonnen ... Die Strapazen werden schrecklich sein ... Doch jede Meile näher zu Stambul verbessert die Lage ... Und ihr werdet nach Stambul kommen, wenn es auch wochenlang dauert ... Juliette, dort gehst du sofort zu Mr. Morgenthau ... Du erinnerst dich noch an ihn ... Der amerikanische Botschafter ...«

      Gabriel zog einen feierlich versiegelten Brief aus der Tasche. Auch diesen, sein Testament, hielt er schon seit Wochen in Bereitschaft, ohne daß Juliette davon wußte. Wortlos reichte er ihn hin. Sie aber nahm langsam die Hände zurück und verbarg sie hinterm Rücken. Gabriel deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf den Musa Dagh im Fenster, den die mächtige Morgensonne eingeschmolzen zu haben schien:

      »Ich muß dort hinauf ... Die Arbeit beginnt ... Ich glaube kaum, daß ich heute noch zurückkommen werde ...«

      Die ausgestreckte Hand mit dem versiegelten Brief sank herab. Was für Tränen sind das? Und Juliette hält sie nicht zurück? staunte Gabriel. Weint sie um sich, um mich? Ist das der Abschied? Er spürte ihre Qual, erkannte sie aber nicht. Flüchtig sah er die andern an, die Schweigenden, die noch immer in sich zurückgezogen atmeten, um die Entscheidung nicht zu verwirren. Gabriel sehnte sich nach Juliette, die nur einen Schritt weit von ihm stand. Er sprach deutlich und eindringlich wie einer, der sich durch das Telefon über trennende Länder hinweg einem geliebten Wesen offenbaren muß:

      »Ich habe gewußt, daß es kommen wird, Juliette ... Und doch hab ich nicht gewußt, daß es so kommen wird ... zwischen uns ...«

      Ihre Gegenworte klangen dunkel, aus der Tiefe geholt, böse, und vom Schluchzen nicht zerrissen:

      »Und das alles mutest du mir wirklich zu!?«

      Wie lange Stephan schon wach war, wieviel er von diesem Gespräch seiner Eltern vernommen und begriffen hatte, das ahnte niemand. Nur Iskuhi stand plötzlich erschrocken auf. Juliette wußte und hatte sich oft darüber gewundert, daß zwischen Gabriel und dem Knaben ein ebenso tiefes wie scheues Verhältnis herrschte. Stephan, der sonst Überlaute und Leidenschaftliche, war in Gabriels Gegenwart zumeist stumm, doch auch Gabriel benahm sich Stephan gegenüber in auffälliger Weise verschlossen, ernst und wortkarg. Das lange Leben in Europa hatte in den Seelen der beiden Bagradians Asiens Leben zwar gedämpft, nicht aber erstickt. (In den Häusern der sieben Dörfer küßten die Söhne, so alt sie auch waren, ihren Vätern allmorgendlich, allabendlich die Hand. Es gab sogar sittenstrenge Familien, in denen bei den Mahlzeiten dem Vater nicht durch die Frauen aufgewartet wurde, sondern durch den ältesten Sohn. Und umgekehrt ehrte auch der Vater den ältesten Sohn auf zartstrenge Art durch uralte Bräuche, sah doch einer im andern die Nachbarstufe auf der verdämmernden Treppe der Ewigkeit.) Bei Gabriel und Stephan zeigte sich dieses Verhältnis freilich nicht mehr in urtümlich festgelegten Formen, sondern in jener Befangenheit, die beide verband und trennte. Nicht anders war die Beziehung Gabriels zu seinem eigenen Vater gewesen. Auch er hatte in dessen Nähe stets eine festlich-beklommene Spannung empfunden und niemals ein zärtliches Wort oder gar eine Liebkosung gewagt. – Um so erschütternder wirkte der Schrei, den Gabriels Sohn nun ausstieß, als er erkannte, daß die Trennung drohe. Er warf die Decke ab, er stürzte zum Vater hin, er klammerte sich an ihm fest:

      »Nein, nein ... Papa ... Du darfst uns nicht fortschicken. Ich will bei dir bleiben ... Bei dir bleiben ...«

      Was sah aus den mandelförmigen Augen des Sohnes den Vater an? Nicht mehr ein Kind, dessen Leben man zu bestimmen wagt, sondern ein voller Mensch, von Willen und Blut gelenkt, ein fertig durchgebildetes Schicksal, an dem sich nicht mehr kneten ließ. Er ist in diesen Tagen so groß und reif geworden. Diese Feststellung aber schöpfte nicht aus, was ihm aus Stephans Augen entgegenschlug. Schwach wehrte


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