Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel

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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel


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...«

      »Damals? Ich hab's nie geglaubt, daß man ein andrer werden kann, Iskuhi. Man lernt zu, dacht ich mir, man entwickelt sich ... Das Gegenteil ist wahr. Man schmilzt. Was dir geschieht und mir und unserm ganzen Volk, das ist ein Schmelzprozeß. Ein dummes Wort für die Sache. Aber ich spür's, wie ich zusammenschmelze. Alles Überflüssige, alles Angeflogene vergeht. Bald bin ich nur mehr ein Stück Metall, dieses Gefühl hab ich. Siehst du, und aus demselben Grunde ist Stephan verloren ...«

      Iskuhi griff nach seiner Hand:

      »Warum sagst du das? Warum soll Stephan verloren sein? Er ist ein starker Junge. Und Haik kommt sicher nach Aleppo. Warum nicht auch er?«

      »Er kommt nicht nach Aleppo ... Bedenke doch, was geschehen ist. Und das alles trägt er in sich ...«

      »Du solltest solche Worte gar nicht aussprechen, Gabriel! Du schadest ihm damit. Ich habe alle Hoffnung für Stephan ...«

      Iskuhi wandte plötzlich den Kopf nach dem Krankenzelt. In Gabriel aber blinkte ein Gedanke auf, er wußte selbst nicht warum. Sie wünscht sich Juliettens Tod, sie muß ihn wünschen! Iskuhi war aufgesprungen.

      »Hörst du nichts? Ich glaube, Juliette ruft!«

      Er hatte nichts gehört, folgte aber Iskuhi, die ins Zelt stürzte. Juliette wand sich auf ihrem Bett wie eine Gefesselte, die gegen Stricke kämpft. Sie war weder ganz bewußtlos noch auch wach. Ihre zerbissenen Lippen bedeckte ein weißlicher Schorf. Man sah es den glutroten Wangen an, daß in den letzten Minuten das Fieber wieder bis an die Grenze des Möglichen gestiegen sein mußte. Sie schien Gabriel zu erkennen. Mit irren Händen klammerte sie sich an seinen Rock. Er konnte die Frage nur mit Mühe verstehen, die sie heiser lallte:

      »Ist das alles wahr ... Ist das alles wahr ...?«

      Zwischen dieser Frage und seiner Antwort lag eine kleine Zeitlücke, wie aus eisiger Windstille gebildet. Dann aber betonte er, über die Frau geneigt, jede Silbe in der Art eines Magnetiseurs, der einen hypnotischen Auftrag erteilt:

      »Nein, Juliette, das alles ist nicht wahr ... das alles ist nicht wahr ...«

      Ein erschütternder Seufzer:

      »Gott sei Dank ... Es ist nicht wahr ...«

      Ihr Krampf lockerte sich. Sie zog die Knie hoch, als wolle sie sich schuldlos im Mutterleib des Fiebers verkriechen. Gabriel fühlte ihren Puls. Es war ein wildes, doch kaum mehr wahrnehmbares Vogelpicken. Man mußte zweifeln, ob Juliette noch den Morgen erleben werde. Schnell, das Herzmittel! Iskuhi schob ihr den Löffel mit der Strophantuslösung zwischen die Zähne. Da kam Juliette noch einmal zu sich, versuchte aufzusitzen und keuchte:

      »Auch Stephan ... die Milch ... nicht vergessen ...«

      Für Pastor Aram brach ein Tag des Ärgernisses an. Er hatte sich, die Laterne an den Gürtel geschnallt, vor Morgen aufgemacht, um zu den Meeresklippen hinabzusteigen und die ersten Resultate der von ihm ins Werk gesetzten Fischerei zu besichtigen. Das Floß war nun fertig, und die jungen Leute hatten sich in dieser windlosen Nacht bereits hinausgewagt, um mit Schleppnetzen und kleinen Lichtern den üblichen Küstenfischfang zu betreiben. Tomasian war von seiner Idee besessen. Er sah in ihr nicht nur die Möglichkeit, den notwendigen Kostwechsel und reichliche Zubuße zu schaffen; sie erschien ihm darüber hinaus als einzige Rettung vor der nahenden Hungersnot. Sollte es bei hinreichendem Fleiße nicht gelingen, dem Meere täglich zwei- bis dreihundert Oka Fische zu entreißen? Wie sehr man auch mit dem Schlachtvieh jetzt schon knauserte, in sechs Wochen würde das letzte Schaf verschwunden sein – selbst bei höchst optimistischer Rechnung. Brachte er aber, Aram Tomasian, die Fischerei zum Blühen, so wuchs aus dem Meere neuer Mut und neue Widerstandskraft. Schon der Gedanke an die unerschöpfliche Lebensquelle würde Wunder wirken.

      Während der junge Pastor im grünlichen Frühlicht den auf Befehl des Führerrats neu gebahnten Pfad mit großen Schritten hinabsprang, dachte er jedoch weder an Schafe noch an Milch, ja nicht einmal an seine Fische; sein Herz war ganz anderen, und zwar familiären Beklemmungen ausgesetzt. Was sind das für unnütze Besorgnisse und Wallungen, Aram Tomasian? Du tust ja so, als würde dein kleines Kind, dieser elende Wurm, jemals ein erwachsener Mann werden, für dessen Zukunft du Vorsorge treffen müßtest. Du tust ja so, als ob du mitten in einer regelstrengen Gesellschaft lebtest, in der die Ehre eines Mädchens der Gegenstand eifernder Obhut ist. Doch was hilft's? Dem Menschen ist es durch Gottes Gnade vergönnt, an alles eher zu glauben als an den Untergang, selbst wenn er schon mittendrin steht.

      Das Söhnchen der Tomasians war nun sechzehn Tage alt. Es hatte die großen, uralten Armenieraugen. Sein Blick aber faßte nichts. Und noch immer hatte es nicht geschrien. Wenn es einen Laut von sich gab, so war es bloß ein tonloses Wimmern. Von Tag zu Tag grausamer schwand die Hoffnung auf einen Irrtum hin. War es blind und stumm geboren? Das Feuermal aber wuchs, dieses rätselhafte Zeichen, das der Musa Dagh selbst mit unsichtbarem Petschaft auf die Brust seines ersten Sprößlings gepreßt zu haben schien. Wen alles hatten die Tomasians wegen ihres Unglücks nicht schon zu Rate gezogen? Ganz abgesehen von Bedros Hekim und Mairik Antaram, der offiziellen Heilkunde, die verschiedensten weisen und unweisen Frauen, die es im Lager gab. Sie bekamen stets das gleiche zu hören, schlüssige und billige Erklärungen des Unglücks nämlich, die keinen Weg der Hilfe wiesen: die schweren Erlebnisse Howsannahs in Zeitun, die Deportation, die harte Reise nach Yoghonoluk, und dann wiederum Erregung und Flucht, all diese Schrecknisse hätten das Kind im Mutterleibe geschädigt. Was aber konnte man mit solchen Tröstungen anfangen? Da hier kein vernünftiges Mittel half, hätte sich Howsannah am liebsten den Künsten einer Nunik anvertraut. Seit der türkischen Invasion im Tale aber zeigten sich die Wehmütter des Todes und Gebärens nicht mehr auf dem Damlajik.

      Jene einleuchtenden Gründe aber, die das furchtbare Schicksal ihres Kindes so logisch erklärten, genügten Howsannah ganz und gar nicht. Sie selbst fühlte sich von Gott geschlagen. Nicht umsonst war sie in einem pietistischen Vaterhaus aufgewachsen. Ein Kind soll Gnade sein. Dieses Kind aber war Strafe. Strafe erfließt aus Gott für Sünde. Sie war sich keiner Sünde bewußt. Auch nicht in den heimlichsten Winkeln ihrer Gewissenserforschung konnte sie sich Aram gegenüber einen Vorwurf machen. Da aber Schuld zweifellos vorhanden war, so lag sie in anderen, und zwar klarerweise in ihrer engeren Umgebung. Aram schied von jedem Verdachte aus. Howsannah war eine fanatische Gattin, die an ihrer Ehe keinen Makel sah. Wo aber lag dann die Sünde, deren Schatten auf ein unschuldiges Kind fiel? Da war zunächst die erste Ursache des Fluches, Juliette Bagradian. In ihr, der Ehebrecherin, der Kleidernärrin, der Gottlosen, der Fremden, sah Howsannah den Inbegriff der Sünde, deren Folgen fressend ausstrahlten wie Krebs. Und man lebte schamlos in ihrem Bannkreis, man wohnte in ihrem Zelt, schlief in ihrem Bett, man aß auf ihren Tellern ihre Speisen, weil man abhängig war von gleisnerischem Tand, weil man auf solche Bequemlichkeiten nicht verzichten wollte, weil man zu der von Gott verhängten Armut, wie sie in allen anderen Familien herrschte, nicht die Reinheit besaß. Howsannahs Gedanken aber blieben hiebei nicht stehn. Langsam drang die Wahrheit zum Herzen, das gierig nach ihr griff: Iskuhi. Kein Zweifel! Howsannah wußte, wie es um die junge Schwägerin stand. Eine ehebrecherische Person auch sie, ohne Halt, ohne Glauben, zur Sünde rücksichtslos entschlossen! War sie nicht immer starrköpfig, ichbesessen, vergnügungstoll gewesen, in Zeitun schon, als Aram seiner Frau die harte Forderung gestellt hatte, mit einem solchen Geschöpf in gemeinsamem Haushalt zu leben? Aber Aram wollte ja niemals die Wahrheit sehen, und es war einfach unmöglich gewesen, ein offenes Wort über Iskuhi, das geliebte Schwesterchen, zu wagen. Als Howsannah Tomasian während der Taufe ihres armen Kindes weinend davongelaufen war, da hatte sie die Zusammenhänge wie in einer unbestimmten Vision vorausgeahnt, ohne das geringste zu wissen. Jetzt aber wußte sie alles, sie wußte, daß ihr Kind unter Gottes Fluch stand. Sie weinte nicht mehr. Mit geballten Fäusten ging sie die fünf Schritte, die das Zelt maß, unablässig hin und her wie eine Wahnsinnige in der Zelle. In dieser Nacht aber hatte Howsannah nicht länger mehr geschwiegen, sondern von Aram verlangt, er möge sie am Morgen schon in die Hütte Vater Tomasians bringen. Das Kind werde in dem Sündenpfuhl der Bagradians von Gottes Strafe nie und nimmer befreit werden. Der Pastor; der unter der seelischen Verwirrung seiner Frau tief litt, sah sie verständnislos an: »Wenn die Bagradian eine Sünderin ist, was hat das mit Gottes Strafe und unserem Kind zu tun?« Howsannah nahm den


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