Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Читать онлайн книгу.der vierten Nacht aber wurde es in der tiefen Einsamkeit so stark, daß sich Krikor nicht mehr bezwingen konnte. Unter den größten Schmerzen stand er von seinem Bett auf, schleppte sich zu der Tür, die in den Kotter führte, zog den Schlüssel aus dem Versteck und schloß mit seiner verschworenen und verknoteten Hand mühsam auf. Sarkis Kilikian lag auf seiner Matte mit offenen Äugen. Der Apotheker hatte ihn nicht geweckt, und der Besuch versetzte ihn keineswegs in Staunen. Die Hände und Füße des Russen waren gefesselt, doch so gnädig, daß er sich bequem bewegen konnte. Krikor stellte die Petroleumlampe auf den Boden und ließ sich neben ihr nieder. Kilikians Fesseln beschämten seine Seele. Um der Gleichberechtigung willen hielt er ihm seine eigenen armen Hände hin:
»Wir beide sind gefesselt, Sarkis Kilikian. Meine Fesseln aber schmerzen mehr als die deinen, und ich muß sie auch morgen noch tragen. Beklag dich nicht.«
Kilikian sah ihn voll aus seinen apathischen Augen an:
»Ich beklage mich nicht.«
»Vielleicht aber wär's besser, du würdest dich beklagen ...«
Der Apotheker reichte dem Gefangenen seine Rakiflasche. Dieser tat einen nachdenklichen Schluck. Auch der Alte trank aufmerksam. Dann betrachtete er den Russen:
»Ich weiß, daß du studiert hast ... Vielleicht hättest du in diesen Tagen gerne ein Buch gelesen?«
»Zu spät kommst du damit, Apotheker.«
»In welchen Sprachen kannst du lesen, Kilikian?«
Der Russe brummte, als verrate er dergleichen nicht gerne:
»Auch Französisch und Russisch, wenn es sein muß.«
Krikors glatter Mandarinenkopf mit dem wippenden Bocksbärtchen nickte traurig:
»Da sieh nur, was du für ein Mensch bist, Kilikian ...«
Der Deserteur gluckste sein grundloses langsames Lachen, das schon Gabriel Bagradian in jener Nacht der Zeltprobe entsetzt hatte. Krikor aber ließ sich nicht beirren:
»Du hast ein unglückliches Leben gehabt, ich kenne es ... Aber warum? Hat man dich nicht nach Edschmiadsin geschickt? Hast du nicht im Seminar gelebt, Tür an Tür mit der herrlichsten Bibliothek der Welt? Ich war nur einen einzigen Tag dort, aber am liebsten wäre ich bis ans Lebensende unter jenen Büchern geblieben ... Und du bist durchgebrannt ...«
Sarkis Kilikian stützte sich halb auf:
»Sag einmal, Apotheker, du hast doch früher geraucht ... Ich habe seit fünf Tagen keinen guten Atemzug mehr gemacht.«
Krikor raffte stöhnend sein lahmes Gebein zusammen und brachte dem Gefangenen seinen Tschibuk samt der letzten Büchse Tabak, die er besaß:
»Nimm das nur, Kilikian! Ich hab auch diesen Genuß aufgeben müssen, weil ich die Pfeife nicht mehr halten kann.«
Sarkis Kilikian hüllte sich sofort leidenschaftlich in Dampf. Der Apotheker aber hob die Lampe und leuchtete ihn an:
»Und doch bist du selbst schuld an deinem Unglück, Kilikian ... Ich sehe deinem Gesicht an, daß du ein Mönch bist, ich meine damit nichts Pfaffenhaftes, sondern einen, der in seiner Zelle die ganze Welt besitzt ... Deshalb ist auch die Sache mit dir so übel ausgefallen. Warum bist du durchgegangen? Was hast du in der Welt zu suchen gehabt?«
Sarkis Kilikian gab sich so ausschließlich dem Rauchen hin, daß es gar nicht deutlich wurde, ob er Krikors Reden hörte und verstand.
»Ich werde dir etwas sagen, mein Freund Sarkis ... Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen, das sind die Menschentiere, die Milliarden! Die andern, die Menschenengel, zählen Tausend oder bestenfalls Zehntausend. Zu den Menschentieren gehören auch die Großen der Welt, die Könige, die Politiker, die Minister, die Generale, die Paschas, ebenso wie die Bauern, die Handwerker und Arbeiter. Sieh dir den Muchtar Kebussjan an! So wie er sind sie alle. Sie haben in tausend Formen nur eine Beschäftigung: die Fabrikation von Kot! Denn die Politik, die Industrie, die Landwirtschaft, die Kriegskunst, ist dies alles etwas andres als Fabrikation von Kot, wenn sie vielleicht auch notwendig sein mag? Nimmst du dem Menschentier den Kot fort, so bleibt in seiner Seele das Schrecklichste zurück, die Langeweile. Er hält es mit sich selbst nicht aus. Und aus dieser Langeweile kommt alles Böse, der politische Haß und der Massenmord. – In den Menschenengeln aber lebt das Entzücken! Oder bist du vielleicht nicht verzückt, Kilikian, wenn du die Sterne siehst? Das Entzücken in den Menschenengeln ist dasselbe, was der Lobgesang der wirklichen Engel ist, von dem der große Agathangelos behauptet, daß er die höchste und aktivste Tätigkeit im Universum überhaupt sei ... Aber wohin komme ich? Ich wollte sagen, daß es Menschenengel gibt, die sich selbst verraten, die von sich selbst abfallen. Für diese aber gibt es kein Erbarmen und keine Gnade. Jede Stunde nimmt Rache an ihnen ...«
Hier verlor Krikor von Yoghonoluk, der Wortgewaltige, den Faden und schwieg. Sarkis Kilikian schien von alldem nichts begriffen zu haben. Plötzlich aber legte er seinen Tschibuk zur Seite:
»Es gibt allerlei Seelen«, sagte er, »manche werden schon in ihrer Kindheit vernichtet und niemand fragt danach, was das für Seelen sind ...«
Er zog mit seinen gefesselten Händen ein Rasiermesser aus der Tasche und klappte es auf:
»Sieh her, Apotheker! Glaubst du nicht, daß ich damit diese Riemen durchschneiden könnte? Glaubst du nicht, daß ich mit ein paar Fußtritten diese ganze Bude zertrümmern könnte? Und doch tu ich's nicht.«
Krikors Stimme klang hohl und gleichgültig wie in früheren Zeiten:
»Dieses Messer besitzt jeder von uns, Kilikian. Aber was nützt es dir? Wenn du dich auch befreist, über die Grenze des Lagers kommst du doch nicht hinaus. Wir können daher nur die innere Gefangenschaft zerbrechen.«
Der Deserteur sagte darauf nichts mehr und lag still. Krikor aber holte irgendein Buch aus seiner Büchermauer und begann, die nickelgefaßte Brille auf der Nase, mit einschläferndem Klang daraus vorzulesen. Kilikian hörte mit seinen unbewegten Achataugen den langatmigen Perioden zu, in denen vom Wesen und Einfluß der Gestirne die unklare Rede ging. Es war das letztemal, daß der Apotheker von Yoghonoluk Gelegenheit fand, einen jungen Menschen an seinem Reichtum teilnehmen zu lassen. Aus unverständlichen Gründen erschien es ihm der großen Mühe wert, sich in diesem entlaufenen Priesterzögling einen neuen Jünger zu erziehen. Vergebliche Mühe! In der nächsten, der eben vergangenen Nacht schon war der Menschenfischer wieder einsamer als je.
Krikor näherte sich an seinen beiden Stöcken langsam der Bahre. Sein gelbes Gesicht blieb über den toten Bagradiansohn gebeugt, lautlos. Dann begann er seinen spitzen, kahlen Schädel minutenlang zu schütteln. Dies aber war nicht nur das gewöhnliche Kopfwackeln, das ihn seit seiner Krankheit häufig anfiel. Es bedeutete das fassungslose Nichtbegreifen einer Welt, in der zum Geist verpflichtete Wesen, anstatt in die Wonnen der Definitionen, Formeln und Verse einzudringen, sich mit fanatischem Gurgelabschneiden befassen. Wie wenig Menschenengel gibt es, und auch diese wenigen noch verraten ihre Engelschaft und fallen ab. Er suchte in seinem eigentümlichen Zitatenschatz nach einem Wort, an dem er sich hätte aufrichten können. Aber sein Herz war jetzt viel zu kummervoll, als daß er das Richtige gefunden hätte. Verkrümmt und schief humpelte er in die Baracke zurück. Unter seinen Tinkturen bewahrte der Apotheker eine winzige Kugel aus dünnem Glas auf, die mit einem Tropfen Siegellack verschlossen war. Vor Jahrzehnten hatte er nach dem Rezept eines mittelalterlichen Mystikers aus Persien versucht, das wahre königliche Rosenöl herzustellen, dessen Kenntnis der Welt längst entfallen war. In der Glaskugel ruhte der einzige Tropfen dieser in tagelangen Mühen gewonnenen Essenz. Noch einmal schleppte sich Krikor bis zur Bahre und zerdrückte die dünne Kugel auf des Toten Stirn. Sogleich schnellte ein starker Duft auf, der mit sehnig gebreiteten Schwingen über dem Haupte des Gemordeten schweben blieb. Und der Duft glich wirklich jenem Genius, dessen unsichtbarer Leib, nach den Worten von Krikors persischem Gewährsmann, aus den Wesenheiten von dreiunddreißigtausend Rosenblüten gebildet ist.
Mittlerweile waren Ter Haigasun und Bedros Hekim erschienen. Der Priester stand starr am Kopfende der Bahre, die Augen halb geschlossen, die Hände fröstelnd in den Kuttenärmeln verborgen. Die knochig