Travestie der Liebe. Else Feldmann
Читать онлайн книгу.singen. Aber sie fanden bald, daß das nicht ging. Sie stickten nach riesigen Gobelinvorlagen und mußten zählen – einen Irrtum hatten sie schwer zu büßen. Darum war auch meist eine große Stille im Raum.
Sie konnten auch während der Arbeit nicht ihren Träumen nachhängen. Diese stecknadelkopfkleinen Querstiche nahmen ihre ganze ungeteilte Aufmerksamkeit für sich in Anspruch.
Sie arbeiteten neun Stunden im Tag. Dann waren ihre Augen wie blind. Wenn sie in das helle Licht sehen sollten, schmerzte es. Alle Mädchen litten an den Augen. Alle hatten geschwächte Sehnerven.
»Wenn Sie vierzig Jahre alt sein werden, wird Ihre Sehkraft vollständig geschwunden sein«, sagte der Arzt zur ältesten Arbeiterin, die jetzt fünfunddreißig war.
Die Mädchen dachten nicht daran, aufzuhören und eine andere Arbeit zu suchen. Es war eben ihr Schicksal, daß sie an Augenschwäche litten.
Fanny erzählte zu Hause ihrer Mutter: »Wir haben einen großen Auftrag bekommen: ein Engländer, der eine Amerikanerin geheiratet hat, läßt sein Schloß mit Gobelins schmücken.«
Und die Mutter nickte stolz und zufrieden über ihr Kind, dessen Handarbeit sogar bis nach England ging …
An einem Sonntagnachmittag wurde Fanny von einer Freundin abgeholt.
Der Mutter wurde gesagt: Spaziergang – und vielleicht ein wenig zuschauen in einer Tanzschule.
»Sei mir nur pünktlich vor zehn Uhr wieder zu Hause«, rief die Mutter ihr nach.
Auf dem Wege kicherten die beiden. Sie beeilten sich, sie liefen fast. Ja, es war höchste Zeit, daß das Leben begann. Siebzehn Jahre waren bereits vorbei.
HERR JANEK
Juliane sagte zu mir: »Ich seh’ es dir an, du hast ein Geheimnis.«
»Kannst du es mir ansehen?«
»Mit Leichtigkeit. Du lächelst ja immer, und manchmal hast du Tränen. Gewiß hast du einen Geliebten. Ist es der Pole? Herr Janek?«
»Noch nicht.«
»So so, also doch!«
»Laßt mich in Ruh’! Ich weiß nichts.«
Sonntagnachmittag gingen wir alle miteinander zum Tanz. »Herr Janek sitzt wie immer in seiner ’Loge’, wartet, daß die Mädchen ihn anschmachten!« Das sagte Juliane.
»Sieh’, wie er dasitzt, wie ein Pascha; schön gebeten will er sein. Warum geht er, der ein Herr ist, dorthin, wo Fabrikmädchen tanzen?«
»Er kommt deinetwegen«, antwortet die kluge, ernste, ein wenig schiefschulterige Oliva und heftet ihre Augen durchbohrend fest auf mich.
Ja, vielleicht ist es wahr. Und ich drücke das Brieflein, das ich unter der Bluse trage, an mein klopfendes Herz. Ich wurde um eine Zusammenkunft gebeten, diesen Sonntag, in den Rosensälen … und um einen Tanz …
Er sieht sich im Saale um; ich merke es. Meine Wangen und Ohren wurden rot, als hätte ich Grog getrunken. Mein Mund strömte Wärme aus, als fieberte ich; Schleier zogen vor meinen Augen, daß ich nichts sah.
Dann tanzte ich mit ihm.
Weiße Handschuhe streiften meine Schulter. Das Ende eines weißen Batisttüchleins sendete mir Wohlgeruch in die Nase. Er sah mich an und fragte: »Wollen Sie essen? Ein Roastbeef?« und sagte noch lächelnd dazu: »Das kriegen Sie nicht alle Tage.«
Ich sitze da, verweigere Essen und Trinken. »Vielleicht eine Tüte Bonbons?« Ich schüttle den Kopf.
O je, dachte ich, diese Bonbons, die wir jahrein, jahraus herstellen – uns wird übel, wenn wir den süßen Geschmack verspüren.
»Warum nicht? Bonbons?«
»Danke, ich kann nicht. Ich arbeite in einer Schokoladenfabrik.«
Wieder lachte er. Dann freilich versteh’ ich den Widerwillen. »Vielleicht eine Erfrischung? Limonade?«
Ich nickte. Oder nickte ich nicht?
Man stellte ein Glas eisgekühlte Limonade mit Strohhalm vor mich hin.
Ich fühlte, daß mir nicht gut war, stand vom Tisch auf, grüßte, sagte, ich müsse gehen. Juliane und Oliva begleiteten mich. Ich bin sehr schwach. Den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen. Denn ich hatte mir am Samstag für einen großen Teil des Wochenlohnes in der Abteilung für Gelegenheitskauf eine neue Bluse (schadhaft) gekauft, sie an einer rissigen Stelle mit Goldborte benäht, Knöpfchen und so weiter … Es war eine blaugrüne Bluse zu meinem blonden Haar.
Dann kam wieder der Sonntag, und ich hatte wieder ein Briefchen. Und diesmal hatte ich Olivas Rat befolgt und mit Glyzerin die Hände bestrichen, in Handschuhen geschlafen und den halben Sonntag in der verdunkelten Stube verbracht, damit meine Augen, statt abends rötlich entzündet, frisch glänzend sein sollten, wie die Augen glücklicher junger Mädchen, die vom Fabrikstaub nichts wissen. Auch auf Juliane hatte ich gehört und eine teure Schönheitsseife gekauft, die die Haut weich wie Samt, rosig und weiß macht.
Und weiße Spitzen gekauft und an die blaugrüne Bluse genäht, denn die grüne Farbe macht mich nur noch blässer. Und Samstagvormittag hatte ich zum letztenmal gegessen, und Sonntag fast gar nichts.
»Wollen wir tanzen?«, fragte Herr Janek.
Ja, wenn ich es nur aushalte!, dachte ich; ich bin so müde und schwach.
»Ich frage Sie nicht mehr, ob Sie essen wollen, denn Sie verneinen stets. Vielleicht wieder Limonade?«
Ich glaube, daß ich nickte.
Er sah mich an: »Merkwürdig sind Sie. Andre Mädchen in Ihrem Alter sind lustig, genießen das Leben – die Jugend vergeht.«
Was wußte er von mir ? Ich schwieg; hätte ich sprechen wollen, hätte mein volles Herz mich verraten.
»Wie ist es?«, fragte Juliane. »Ist er bereits dein Geliebter?«
»Du siehst nicht aus wie jemand, der glücklich ist«, sagte Oliva. »Vor dir hatte er eine andre, sie heißt Lina, ging aufrecht, schlank, hatte dunkle Augen und lachte. Jetzt geht sie nicht mehr aufrecht und schlank – in der Weinstube schenkt sie Getränke ein – sie hatte nur einmal am Sonntag mit ihm getanzt und war dann sein. Nach dir kommt wieder eine andre. Auguste! Sie hat ein Briefchen von ihm bekommen. Dort geht sie und lächelt und freut sich.«
Wer ist Herr Janek?
Hat er kein Herz?
Vielleicht wird er einmal eine Familie gründen, Gattin und Kinder liebhaben und für sie sorgen. Uns will er in sich verliebt machen, uns will er unglücklich machen, weil wir arm sind.
Da nahm ich mein Herz in beide Hände, drückte es zu Boden und stampfte mit allen Schmerzen meine Liebe heraus. Und nach dieser Befreiung fühlte ich mich nicht durch Liebe erlöst, aber in Menschenwürde errettet.
ABENTEUER
Annette, ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren, war in Stockholm im Bureau einer Zellulosefabrik angestellt. Mit ihr war ihre Freundin Lieschen, genau zehn Jahre älter als sie. Beide stammten aus Hamburg. Die Fabrik Hamburg hatte sie beide auf ihren Wunsch in die Zweigfabrik Stockholm versetzt.
Annette hatte in Hamburg ihr liebes Heim verlassen. Sie wohnte im Gewerbemuseum, ihr Vater war dort Hausaufseher und trug eine Kappe mit Goldschnur; ihre Mutter war die Hausfrau, eine kleine, alte, zärtliche Person. Annette hatte Abschied genommen von ihrem Klavier und von ihrem französischen Cercle (einmal wöchentlich).
Lieschen hatte weniger zurückgelassen. Sie hatte eines Tages den schmalen Schrank in ihrem möblierten Zimmer ausgeräumt, zwei Koffer gepackt, und niemand hatte ihr mit Tränen in den Augen nachgeblickt.
Es schien ihnen schön und wunderbar, die Welt zu sehen. Nun waren sie