LTI. Victor Klemperer
Читать онлайн книгу.href="#litres_trial_promo">Mutschmann und Adolf überleben!« Dieser nüchterne Mann also, übrigens ein Protestant, und also nicht etwa in seiner Kindheit mit Heiligen- und Märtyrergeschichten durchtränkt, erzählte uns das Folgende mit genau der gleichen selbstverständlichen Gläubigkeit, mit der er sonst von Kalix’ kleinen und Mutschmanns großen Niederträchtigkeiten zu berichten pflegte.
Ein SS-Obersturmführer in Halle oder Jena – er machte genaue Angaben über Ort und Personen, ihm war alles »verbürgt« von »absolut glaubhafter Seite« mitgeteilt worden –, ein höherer SS-Offizier hatte seine Frau zur Entbindung in eine Privatklinik gebracht. Er sah sich ihr Zimmer an; über dem Bett hing ein Christusbild. »Nehmen Sie das Bild da herunter«, verlangte er von der Schwester, »ich will nicht, daß mein Sohn als erstes einen [79]Judenjungen sieht.« Sie werde es der Frau Oberin sagen, wich die ängstliche Schwester aus, und der SS-Mann ging, nachdem er seinen Befehl wiederholt hatte. Schon am nächsten Morgen telefonierte ihm die Oberin: »Sie haben einen Sohn, Herr Obersturmführer, Ihrer Gattin geht es gut, auch das Kind ist kräftig. Nur ist Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen: das Kind ist blind zur Welt gekommen …«
Wie oft in den Zeiten des Dritten Reiches ist auf die glaubensunfähige, skeptische Intelligenz des Juden gescholten worden! Aber auch der Jude hat seine Legende produziert und geglaubt. Ende 1943 nach dem ersten schweren Fliegerangriff auf Leipzig hörte ich wiederholt im Judenhaus erzählen: Im Jahre 1938 seien die Juden um 4 Uhr 15 nachts aus den Betten geholt worden, um ins KZ verschleppt zu werden. Und neulich beim Bombenangriff seien alle Stadtuhren genau um 4 Uhr 15 stehengeblieben.
Sieben Monate zuvor hatten sich Arier und Nichtarier gläubig im Legendarischen zusammengefunden. Die Babisnauer Pappel. Sie steht, merkwürdig isoliert, überragend und bedeutend, von merkwürdig vielen Punkten aus sichtbar, auf dem Höhenzug im Südosten der Stadt. Anfang Mai berichtete meine Frau das erstemal, in den Trambahnen habe sie schon wiederholt die Babisnauer Pappel nennen hören; sie wisse nicht, was es mit ihr auf sich habe. Ein paar Tage darauf hieß es auch bei mir in der Fabrik: Die Babisnauer Pappel! Ich fragte, weshalb man sie nenne. Ich bekam zur Antwort: weil sie blühe. Das komme selten vor; 1918 sei es der Fall gewesen, und 1918 sei dann der Friede geschlossen worden. Sofort verbesserte eine Arbeiterin: Nicht nur 1918, ebenso sei es 1871 eingetreten. »Und in den anderen Kriegen des Jahrhunderts auch«, setzte eine Vorarbeiterin hinzu, und der Hausdiener verallgemeinerte: »Immer wenn sie geblüht hat, ist Friede geschlossen worden.«
Am nächsten Montag sagte Feder: »Das war gestern eine wahre Völkerwanderung zur Babisnauer Pappel hinaus. Sie blüht wirklich aufs prächtigste. Vielleicht wird doch Friede – ganz von der Hand zu weisen ist Volksglaube nie.« Feder, der mit dem Judenstern und mit der Staubschutzkappe, die er aus seinem alten Richterbarett hergestellt hatte.
[80]XI Grenzverwischung
Daß es zwischen den Naturreichen keine festen Grenzen gibt, lernt seit langem schon der Volksschüler. Weniger allgemein verbreitet und anerkannt ist, daß auch auf dem Gebiet des Ästhetischen die sicheren Grenzen fehlen.
Man benutzt zur Gliederung der modernen Kunst und Literatur – dies ist die Reihenfolge, denn die Malerei hat angefangen, die Dichtung kam hinterher – das Begriffspaar Impressionismus-Expressionismus; die Begriffsschere muß hier ganz einwandfrei schneiden und trennen können, denn es handelt sich um absolute Gegensätze. Der Impressionist ist dem Eindruck der Dinge ausgeliefert, er gibt wieder, was er in sich aufgenommen hat: er ist passiv, er läßt sich von seinem Erleben in jedem Augenblick beeinflussen, ist in jedem Augenblick ein anderer, er hat keinen festen, einheitlichen, dauernden Seelenkern, kein sich gleichbleibendes Ich. Der Expressionist geht von sich selber aus, er erkennt nicht die Macht der Dinge an, sondern drückt ihnen seinen Stempel, seinen Willen auf, drückt sich an ihnen, in ihnen aus, formt sie nach seinem Wesen: er ist aktiv, und sein Handeln wird vom sicheren Selbstbewußtsein des unwandelbar dauernden Ichs gelenkt.
Schön und gut. Aber der Eindruckskünstler gibt absichtlich nicht das objektive Bild des Realen wieder, sondern nur das Was und Wie des von ihm Gesehenen; nicht den Baum mit allen seinen Blättern, nicht das einzelne Blatt in seiner bestimmten Form, nicht das an sich vorhandene Grün oder Gelb der Färbung, das an sich vorhandene Licht einer Tages- und Jahreszeit, eines Wetterzustandes, sondern die ineinanderfließende Blättermasse, die sein Auge erfaßt, und die Farbe, das Licht, die seiner augenblicklichen Gemütslage entsprechen, seine Stimmung also, die er von sich aus der Realität der Dinge aufzwingt. Wo steckt da die Passivität seines Verhaltens? Er ist im Ästhetischen genau so aktiv, er ist genau so Ausdruckskünstler wie sein Widerpart, der Expressionist.
[81]Der gegensätzliche Unterschied bleibt nur auf ethischem Gebiet bestehen: der seiner selbst gewisse Expressionist schreibt sich und der Mitwelt feste Gesetze vor, kennt Verantwortlichkeit. Der schwankende, von Stunde zu Stunde sich ändernde Impressionist nimmt amoralisches Verhalten für eigene und fremde Verantwortungslosigkeit in Anspruch.
Doch auch hier ist Grenzverwischung unvermeidlich. Ausgehend vom Gefühl der Hilflosigkeit und Verantwortungslosigkeit des Einzelnen, gelangt der Impressionist zum sozialen Mitleid und zum aktiven Eintreten für bedrückte, für verirrte Geschöpfe, es ist da kein Unterschied zwischen einem Zola und den Brüdern Goncourt auf der impressionistischen, einem Toller und Unruh und Becher auf der expressionistischen Seite.
Nein, ich habe kein Zutrauen zu rein ästhetischen Betrachtungen auf den Gebieten der Geistes-, der Literatur-, der Kunst-, der Sprachgeschichte. Man muß von menschlichen Grundhaltungen ausgehen; die sinnlichen Ausdrucksmittel können bisweilen bei ganz konträren Zielen die gleichen sein.
Gerade auf den Expressionismus trifft das zu: Toller, den der Nationalsozialismus getötet hat, und Johst, der im Dritten Reich Akademiepräsident wurde, gehören beide zum Expressionismus.
Formen der Willensbetonung und des stürmischen Vorwärtsdrängens erbt die LTI von den Expressionisten oder teilt sie mit ihnen. »Die Aktion« und »Der Sturm« hießen die Zeitschriften der jungen, nur erst um Anerkennung ringenden Expressionisten. In Berlin saßen sie als linkester Flügel, als hungrigste Bohème der Künstlerschaft im Café Austria an der Potsdamer Brücke (auch in dem bekannteren und eleganteren Café des Westens, aber dort war man doch wohl schon arrivierter, dort gab es auch mehr »Richtungen«), in München im Café Stephanie. Das war in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Im Austria warteten wir in der Wahlnacht 1912 auf die einlaufenden Pressetelegramme und jubelten, als der hundertste sozialdemokratische Sieg gemeldet wurde; wir glaubten, nun sei das Tor zu Freiheit und Frieden ganz weit und für immer offen …
[82]Die Worte Aktion und Sturm wanderten um 1920 aus dem weibischen Café in das männliche Bräuhaus. Aktion gehörte von Anfang bis zum Schluß zu den unverdeutschten und unentbehrlichen Fremdwörtern der LTI, Aktion verband sich mit den Erinnerungen an die heroische Frühzeit, mit dem Bilde des Stuhlbeinkämpfers; Sturm wurde zur militärisch-hierarchischen Gruppenbezeichnung: der hundertste Sturm, der Reitersturm der SS, wobei allerdings auch die Tendenz der Verteutschung und des Anknüpfens an die Tradition mitspielte.
Der verbreitetste Gebrauch der Bezeichnung Sturm ist zugleich der verborgenste, denn wem ist noch bewußt, oder war es in den Jahren der nazistischen Allmacht, daß SA: Sturmabteilung bedeutete?
SA und SS, die Schutzstaffel, also die Prätorianergarde, sind als Abbreviaturen so selbstherrlich geworden, daß sie nicht mehr abkürzende Vertretungen darstellen, sondern von sich aus eigene