SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York. Ronald Malfi
Читать онлайн книгу.geflucht und ein Taxi gerufen.
Ein paar Minuten später, als der Taxifahrer am Rande der Twelfth Avenue anhalten wollte, schlug ein rostfarbener Kleintransporter in das Heck des Taxis ein, ließ Glumlys Zähne klappern und sorgte dafür, dass sein Knie punktgenau den Kunststoffknauf des mechanischen Fensterhebers rammte. Der plötzliche Geruch von verbranntem Gummi und Öl durchdrang das Taxi. Glumly hörte, wie Dampf zischend aus dem Kühler des Transporters entwich.
»Verdammt noch mal«, keuchte er entsetzt. Sein Verstand war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu produzieren.
Der Fahrer war weniger verwirrt. »Hurensohn!«, schrie er aus dem Fenster.
Dennis Glumly war einundfünfzig und gut in Form. Er machte regelmäßig Sport, aß gesund und ging zweimal täglich mit einer Hingabe und Pünktlichkeit kacken, mit der ein strenggläubiger religiöser Fanatiker an der Sonntagsmesse teilnahm. Er sprang aus dem Taxi, sprintete auf die andere Straßenseite und setzte seinen Weg zum Hudson River zu Fuß fort. Als gebürtiger New Yorker registrierte er kaum den amphibischen, muffigen Gestank des Flusses. Mit der konstanten Geschwindigkeit des geübten Läufers eilte er das Ufer entlang auf die Piers zu, ohne dass es seine Atmung beeinträchtigte.
Pier 76 fungierte in erster Linie als Abschlepphof. Seit Kurzem dachte die Stadtverwaltung darüber nach, ein neues, von Midtown aus besser erreichbareres Gelände zu finden, um Platz für weitere zahlreiche hochkarätige Eigentumswohnungen zu schaffen, die sich seit einigen Jahren am Ufer ausbreiteten. Als Kind hatte sich Glumly für alles begeistert, was groß und mechanisch war. Zahllose Stunden hatte er an den Piers verbracht, um den großen Schiffen beim An- und Ablegen zuzusehen, Schiffe, deren Rümpfe grob und eisenbeschlagen gewesen waren, mit vorstehenden Bolzen so groß wie die Faust eines erwachsenen Mannes. Das Kielwasser, das sie hinter sich herzogen, hatte weiß und frisch geschäumt. Er hatte immer versucht, so nah wie möglich an die Piers heranzukommen, trotz des stechenden Gestanks nach Fisch, der überall in der Luft gelegen hatte. So nah, bis ihn jemand entdeckt und angeschrien hatte, von hier zu verschwinden, bevor er verletzt oder getötet wurde. Über die Jahre hatten sich die Piers stark verändert, so wie der gesamte West Side Highway, und dennoch lag für ihn ein Hauch Nostalgie in der Luft. Sogar jetzt war er sich dessen bewusst, als Erwachsener und Polizist, der nicht länger nach großen Schiffen Ausschau hielt, sondern nach einem abgetrennten menschlichen Kopf.
Brice war der Name des Mannes, der vor etwa dreißig Minuten den Kopf auf dem Abschlepphof entdeckt hatte. Ein Kollege vom NYPD war schon bei Brice am Fundort, zusammen mit einem bunten Haufen Arbeiter in verschmutzten Overalls und Schals, die in die Kragen ihrer Arbeitshemden gesteckt waren. James Brice stellte sich als Platzmeister des Abschlepphofs heraus. Er war in seinen Dreißigern, mit klarem Blick und Verstand, einem rauen Teint, überraschend guten Zähnen sowie Koteletten, die wie zwei Eishockeyschläger an den Rändern seines Kiefers herunterhingen. Glumly vermutete, dass Brice in einem anderen Leben als gut aussehend wie ein Filmstar gegolten hätte, aber in diesem hatte die bittere Seeluft in langen Arbeitsjahren am Fluss seine Gesichtszüge gehärtet und verformt.
James Brice berichtete gerade seinen Männern mit großem Brimborium, wie er den abgetrennten Kopf gefunden hatte. »Ich hab schon mal einen Toten gesehen, aber ein Kopf, der nicht mehr an einem Körper ist, sieht ganz anders aus. Dieser Kopf hier hatte einfach so einen Blick, mein Gott, und ich sag euch: Was zur Hölle auch immer in diesem Fluss ist, hat sich von ihm genommen, was immer es wollte. Augen, Lippen, Nase. Alles weg. Erst hat es gar nicht wie ein Kopf ausgesehen, bis ich es auf den Kai gehievt habe, um zu sehen, was zum Teufel das ist. Aber, Mann, ein Kopf bleibt ein gottverdammter Kopf.«
»Denkst du, der Körper ist noch da unten, Brice?«, fragte ihn einer der Arbeiter.
»Verdammt«, antwortete Brice, »da unten kann alles Mögliche sein – ihr wisst, was ich meine. Wer sagt überhaupt, dass das der letzte Kopf ist, den ich da rausziehe? Wenn wir ein paar Haken auswerfen, ziehen wir vielleicht noch einen ganzen Haufen Köpfe an Land.«
Einige der Männer lachten.
Der fragliche Kopf wurde auf dem Boden des Büros in eine Plane gehüllt. Ein bleicher Mann namens Kroger, der Glumly als der Chef vorgestellt worden war, stand auf der Rückseite des Büros, so weit weg von dem deformierten Klumpen wie möglich. Im Gegensatz zu den Neugierigen, die sich um James Brice geschart hatten – und Brice selbst natürlich – sah Kroger aus wie am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Mit der rechten Hand stützte er sich gegen die Büromauer, während seine Linke nervös an einem Lederband herumfummelte, das an seiner Gürtelschlaufe hing. Seine Haut hatte die Farbe von rohem Fisch, und seine kleinen, rattenähnlichen Augen blinzelten unkoordiniert wie die eines Neugeborenen.
»Das verheißt nichts Gutes«, sagte Kroger zu Dennis Glumly, als ob eine solche Aussage eine Neubewertung der gesamten Situation nach sich ziehen müsste.
Ein zweiter Polizist packte für Glumly den Kopf aus. Glumly hockte sich hin, betrachtete ihn, hielt dabei eine Hand an sein Kinn und stieß nach einem Moment einen Pfiff aus.
»Beeindruckend«, murmelte er.
»Schon übel, oder?«, fragte der Polizist, um überhaupt etwas zu sagen. »Was zum Teufel machen Sie sich für einen Reim darauf?«
»Na ja, der Kopf ist ziemlich schlecht erhalten. Könnte eine ganze Weile da unten gelegen haben.«
»Die Fische haben daran herumgeknabbert.«
»Sieht aus, als ob es der Kopf eines Mannes ist. Ein Kerl in seinen Vierzigern vielleicht. Was ist das hier?« Glumly zeigte auf eine Stelle knapp oberhalb der linken Schläfe, wo der Schädel gebrochen und ein Loch so groß wie ein Silberdollar zu sehen war. Er konnte hören, wie Kroger hinter ihm etwas zu sich selbst brummte.
»Scheiße«, sagte der Polizist. »Das war der Typ, der das Ding aus dem Fluss gezogen hat …«
»Jimmy Brice«, meldete sich Kroger mit stumpfer Stimme.
»Hat gesagt, er hätte nicht genau gewusst, was es war, als er es zum ersten Mal gesehen hat«, fuhr der Polizist fort, »also hat er irgendeine Stange mit einem Metallhaken genommen, um den Kopf aus dem Fluss zu fischen.«
»Oh Mann, um Himmels willen …«
»Tja.« Der Polizist kicherte fast.
»Haben Sie Taucher angefordert?«
»Nein.«
»Fordern Sie Taucher an.«
»Sie denken, der Körper liegt noch da unten?«
Glumly stand auf, spürte ein Knacken im Rücken und spähte durch die schmutzig-verschmierten Fensterscheiben des Büros hinaus auf den Fluss. »Wer zur Hölle weiß schon, was da unten ist«, antwortete er.
Der Polizist zog die Ecke der Plane wieder über den Kopf und stand auf. Er kratzte sich an der Augenbraue und blickte in Glumlys Richtung. »Was halten Sie von der Sache?«, fragte der Polizist sachlich.
Glumly zuckte nur mit den Schultern.
Er sagte nicht, dass er an den abgetrennten Fuß dachte, der im vergangenen Monat auf einer Müllkippe gefunden worden war.
KAPITEL 6
In vielerlei Hinsicht ist Falschgeld wie eine Krankheit. Zuerst tauchen die Scheine bei einem einzigen Vorfall auf, ähnlich wie bei einem kranken Kind, das in ein Klassenzimmer von vielleicht dreißig Kindern kommt und sie alle ebenfalls mit Grippe ansteckt. Auf ähnliche Weise verbreitet sich Falschgeld überall in einer geschäftigen, gigantischen Stadt wie Manhattan, bevor es jemandem auffällt. Vielleicht in einer örtlichen Spelunke, einem Bordell, einer teuren Boutique auf der Park Avenue. Das Falschgeld verteilt sich wie bei einem Niesen, und manchmal löst es sich scheinbar in Luft auf, bevor es Schaden anrichtet. Manchmal aber werden die Banknoten wie ein Grippevirus durch die Luft getragen und verbreiten sich immer weiter. Bald hat derselbe Virusstamm das Immunsystem eines jeden dritten oder vierten Kindes in der Klasse befallen – oder in einer größeren Stadt jeden dritten oder vierten Block. Eine Bank auf der 86. Straße