SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York. Ronald Malfi

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SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York - Ronald  Malfi


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wie sie ihren Blick eine gefühlte Ewigkeit auf ihn gerichtet hielt, als versuchte sie, etwas Neues über ihn zu erfahren, indem sie ihm ihre Blicke unter die Haut zwang. Visuelle Osmose. Er erinnerte sich an das Mädchen vom Land, das sie einst gewesen war. Es fühlte sich an wie vor lange vergangener Zeit: Sie war das Country Girl, das von einem Bauernhof stammte, er der City Boy aus der großen Stadt, der hoffnungslos in sie verliebt war. Er erinnerte sich daran, wie er sie zum ersten Mal geküsst und sich dabei ständig gefragt hatte, was sie von ihm hielt, sogar als ihre Lippen sich berührten. Ob sie ihn mochte? Ob sie ihn liebte? Es war so lange her, dass die Erinnerung aus einem anderen Leben zu kommen schien.

      Schließlich stand sie entmutigt auf. Die Rundung ihres Bauches war nun fast auf seiner Augenhöhe. »Ich gehe ins Bett«, sagte sie und betrachtete ihre Fingernägel. »Ich muss morgen an die Uni.«

      »Ich bin auch gleich da.«

      Sie flüsterte etwas zurück, aber er konnte nicht verstehen, was es war.

      Nach einiger Zeit schob er sich vom Küchentisch weg und betrachtete die Wände um ihn herum. Langsam wurde die Wohnung zu einem Zuhause. Nur selten fand er die Zeit, Dinge außerhalb seines Jobs zu betrachten, aber wenn er es tat – so wie jetzt – dann schienen alle Gedanken auf einmal auf ihn einzustürzen, ihn zu bombardieren, bis sein Verstand erschöpft war durch die schiere Masse und Brutalität des Angriffs. Er dachte an seine Frau und was es bedeutete, Vater zu sein. Dann hatte er seinen eigenen Vater vor Augen, und er dachte an den Krebs, der ihn langsam lebendig auffraß.

      Am anderen Ende des Flurs war ein kleines Zimmer mit einem hässlichen Teppich, das vollgestopft war mit Kisten und anderen Gegenständen, die nach dem Umzug nicht zum Einsatz gekommen waren. Ein Sofa stand gegen die Wand gelehnt. Auf dem Boden daneben war ein Geschenk von Katies Eltern abgestellt; ein alter Fernseher mit staubigem Bildschirm, zu dem auch ein Videorekorder gehörte. Er stellte einige Kisten um und freute sich, wie gut es sich anfühlte, aus ihrer alten Wohnung ausgezogen zu sein.

      Die meisten Kisten untersuchte er, ohne sie zu öffnen, indem er sie nur leicht kippte. Auf den Seiten war vermerkt, was sich darin befand. Die meisten Kisten waren voll mit Katies Sachen – irgendwelches Zeug, das sie im Laufe der Zeit angesammelt hatte, und noch mehr Zeug, das ihre Eltern angesammelt und in einer eher traurigen Tradition an sie weitergegeben hatten.

      Als er das Schlafzimmer betrat, hörte er Katies Atem, der weich und leicht war. Er schlüpfte aus seiner Kleidung und legte sich leise neben sie ins Bett. Sie murmelte etwas unter ihrem Atem, drehte sich um, und auf einmal atmete sie tiefer.

      »Schläfst du?«, flüsterte er. Sie schlief.

      Als er endlich einschlief, kamen die Träume: ein Flickenteppich irrationaler Geräusche und Bilder, darunter falsch klingende Ouvertüren und schlecht gespielte Einakter mit laienhaften Schauspielern und unlogischer Symbolik. Irgendwo in all der Verwirrung träumte er von seinem Vater.

      Als das Telefon in der Nacht klingelte, erwachte er schweißnass. Sein Herz hämmerte in der Brust. Er saß in der Dunkelheit mit unfokussiertem Blick und nahm sein Mobiltelefon vom Nachttisch. Neben ihm bewegte sich Katie, wachte aber nicht auf.

      »Ja, hallo?«

      »Ist dort John?«, frage eine Frauenstimme.

      »Wer ist da?«

      »Hier ist Tressa Walker. John?«

      »Ja, ich bin dran.« Es dauerte einen Moment, bis der Schlaf Platz gemacht hatte und die Realität übernahm. »Tressa, was ist los? Stimmt etwas nicht?«

      »Ich …« Sie atmete schwer. »John, können wir … können wir uns treffen?«

      Er kniff die Augen zusammen und entzifferte mühsam die glühenden smaragdfarbenen Ziffern auf seinem Wecker: 1:15 Uhr. »Ja, okay. Ich hole dich in deiner Wohnung ab in …«

      »Nein.« Ihre Stimme klang peinlich berührt und weit weg. »Nicht hier. Ich denke … ich kann …« Sie hielt inne und holte tief Luft. »Ich weiß, wo wir uns treffen. McGinty's, drüben auf der Ninth Avenue. Ein kleiner Pub, hat ziemlich lange auf. Ich gehe jetzt dort hin. Kommst du?«

      »McGinty's«, überlegte er laut. »Ja, ich komme.«

      Nachdem er aufgelegt hatte, stellte er fest, dass er zusammengesunken am Rand des Bettes hockte und in die Dunkelheit des Schlafzimmers starrte. Die Finger seiner rechten Hand zeichneten die Narbe auf seiner Stirn nach.

      ***

      McGinty's auf der Ninth Avenue war dunkel, trostlos und wenig besucht. Mit seinen verräucherten Backsteinmauern und den schmalen, vergitterten Fenstern hatte der Pub etwas von einem Verlies. An der Wand auf der rechten Seite neben dem Eingang war eine Bar aus Mahagoni eingebaut, hinter der ein streng aussehender, schnurrbärtiger Barkeeper Gläser mit einem Tuch reinigte. Auf der anderen Seite des Eingangs standen ein mit Kunstleder bezogener Sessel und ein paar hölzerne Klappstühle unter einigen gerahmten Drucken lokaler Künstler, die an der Wand hingen. Der Pub selbst war klein und bot lediglich einer Handvoll runder Holztische Platz. In dieser Nacht waren nur zwei der Tische besetzt. An einem Tisch saßen zwei Männer mit bronzefarbener Haut in Arbeitskleidung, die sich über dunkle Biere mit dickem Schaum beugten und leise auf Spanisch sprachen. Sie sahen nicht auf, als John den Pub betrat, und sie reagierten nicht, auch als er sehr dicht an ihnen vorbeiging.

      Am zweiten Tisch saß ein dünner, bleichgesichtiger Mann in einem dunklen Mantel und mit einer randlosen Brille. Er saß ohne Getränk da und kritzelte mit großer Intensität etwas in ein Notizbuch mit Spiralbindung, wobei seine spitze Nase nur anderthalb Zoll vom Papier entfernt war. Eine Ansammlung grimmig wirkender Schrammen überzog die Knöchel seiner wütend schreibenden Hand.

      Die Gewohnheit, eine solch detaillierte Bestandsaufnahme seiner Umgebung vorzunehmen, hatte er sich nicht erst durch seinen Job antrainiert. Die Dinge aufzunehmen und einzuordnen – Menschen, Orte, alle möglichen Umstände – war eine Fähigkeit, die er schon in seiner Jugend ausgebildet hatte. In der Gegend in Brooklyn, in der er aufgewachsen war, war es im Grunde nicht anders gewesen, als hätte man ein Heim für Waisenjungen unbeaufsichtigt gelassen. Die Gang, in der er dabei war, nahm die Unruhestifter des Viertels auf, die missbrauchten und vernachlässigten Jungs von der Straße, die stets eine Lucky Strike dabei hatten und tranken, wann immer sie etwas Trinkbares in einer Flasche finden konnten. Das Herrische und Dominante an seinem Vater hatte ihn dazu getrieben, eine Art Trost in solchen Gruppen und bei Jungs zu suchen, die alle nur aufwuchsen, um später an der Tankstelle zu arbeiten, in verschiedenen Gefängnissen zu landen oder jung zu sterben.

      Jemand bewegte sich in einer im Schatten versteckten Sitzecke am hinteren Ende des Raumes. Er erhaschte einen Blick auf ein Paar nervöser Augen und erkannte Tressa Walker. Sie lächelte ihn matt an, als er sich näherte und sich hinsetzte.

      »Ich dachte schon, du hättest deine Meinung geändert.«

      »Auf der Brücke war Verkehr.« Er deutete auf die Sammlung leerer Guinness-Flaschen, die in einem Halbkreis vor dem Mädchen standen. »Sieht aus, als legst du es auf einen ordentlichen Kater an.«

      Sie lächelte nervös mit ausdruckslosen Augen. Aus einer Tasche ihres Mantels holte sie eine Packung Camel hervor, schüttelte eine Zigarette heraus und steckte die Packung wieder ein. Sie steckte die Zigarette zwischen ihre Lippen und zündete sie mit der Kokosnuss-Duftkerze an, die auf dem Tisch stand. Ihr erster Zug war übertrieben, und als sie ausatmete, legte sie den Kopf weit zurück und zeigte dabei ihre blasse Kehle. Eine große Wolke aus blauem Rauch legte sich um ihren Kopf. Die folgenden zwei Züge waren das genaue Gegenteil – hastig und unsicher, als ob sie Angst hatte, etwas falsch gemacht zu haben und dabei erwischt zu werden, und als wollte sie die Situation schnell hinter sich bringen.

      »Was ist denn los, Tressa? Du siehst schrecklich aus. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

      »Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf und schaffte es tatsächlich, ein überzeugendes Lachen hervorzubringen. »Nein, alles okay. Mir geht's gut. Ich wollte nur …« Bis jetzt hatte sie ihm noch nicht in die Augen geblickt. Sie sah ziemlich fertig aus. John erinnerte sich an die blauen Flecken


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