Das fehlende Glied in der Kette. Agatha Christie

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Das fehlende Glied in der Kette - Agatha Christie


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      Agatha Christie

      Das fehlende Glied in der Kette

      Ein Fall für Poirot

      Aus dem Englischen von Nina Schindler

      Atlantik

      Für meine Mutter

      1 Ich fahre nach Styles

      Das große Interesse, mit dem die Öffentlichkeit seinerzeit den »Fall Styles« verfolgte, hat sich inzwischen etwas gelegt. Doch in Anbetracht des weltweiten Aufsehens, das er erregt hat, wurde ich sowohl von meinem Freund Poirot als auch von der Familie selbst gebeten, einen schriftlichen Bericht über die damaligen Vorfälle zu verfassen. Die reißerischen Gerüchte, die immer noch im Umlauf sind, werden dadurch hoffentlich zum Schweigen gebracht.

      Deshalb möchte ich zunächst kurz die Umstände erläutern, wie ich überhaupt in diese Affäre hineingeriet.

      Ich war nach einer Verwundung von der Front nach Hause geschickt worden und hatte einige Monate in einem ziemlich trübsinnigen Erholungsheim verbracht, bevor ich noch einen Monat Heimaturlaub erhielt. Da ich weder Freunde noch nahe Anverwandte besaß, war ich unschlüssig, was ich tun sollte, als ich eines Tages zufällig John Cavendish begegnete. Ich hatte ihn in den vergangenen Jahren kaum zu sehen bekommen. Eigentlich hatte ich ihn nie sonderlich gut gekannt. Er war auch etwa fünfzehn Jahre älter als ich, allerdings sah er gar nicht aus wie fünfundvierzig. Als Junge war ich häufig in Styles zu Besuch gewesen, dem Landgut seiner Mutter in Sussex.

      Wir plauderten angeregt über die alten Zeiten und das endete damit, dass er mich für die Dauer meines Urlaubs nach Styles einlud.

      »Meine Mutter wird sich über deinen Besuch freuen – nach all diesen Jahren«, fügte er hinzu.

      »Deiner Mutter geht es doch hoffentlich gut?«

      »Oh ja. Wahrscheinlich hast du gehört, dass sie wieder geheiratet hat?«

      Ich fürchte, ich zeigte mein Erstaunen nur zu deutlich. Mary Cavendish war bei ihrer Heirat mit Johns Vater, einem Witwer mit zwei Söhnen, eine gut aussehende Frau mittleren Alters gewesen. Sie musste mittlerweile mindestens siebzig sein. Ich erinnerte mich an sie als eine energische, befehlsgewohnte Persönlichkeit mit einer gewissen Neigung zu wohltätigen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, die gern Basare eröffnete und die Wohltäterin spielte. Sie war eine äußerst großzügige Dame, die ein beträchtliches Vermögen besaß.

      Den Landsitz Styles hatte Mr Cavendish zu Beginn ihrer Ehe erworben. Er hatte bei seiner Frau völlig unter dem Pantoffel gestanden, und zwar so sehr, dass er ihr bei seinem Tod Wohnrecht auf Lebenszeit in dem Haus zugestand und ihr außerdem noch den größten Teil seines Vermögens vermachte – ein für seine Söhne ausgesprochen ungerechtes Testament. Doch ihre Stiefmutter hatte sich den beiden gegenüber stets außerordentlich großzügig gezeigt, und da die Söhne bei der Wiederverheiratung ihres Vaters noch sehr jung gewesen waren, erschien ihnen Mrs Cavendish immer wie ihre leibliche Mutter.

      Lawrence, der jüngere der beiden, war als Kind ständig krank gewesen. Er hatte Medizin studiert, den Arztberuf jedoch schon bald wieder an den Nagel gehängt und lebte nun zu Hause, wo er seinen literarischen Neigungen nachging, obwohl seinen Gedichten kein sonderlicher Erfolg beschieden war.

      John hatte eine Zeit lang als Rechtsanwalt praktiziert, sich dann aber für das angenehme Leben eines Landedelmanns entschieden. Vor zwei Jahren hatte er geheiratet und lebte nun mit seiner Frau auf Styles. Doch hätte er wohl – so schloss ich scharfsinnig – eine Erhöhung seines Unterhalts vorgezogen, womit er sich ein eigenes Heim hätte leisten können. Mrs Cavendish war jedoch eine Dame, die es vorzog, ihre eigenen Pläne zu machen, und von anderen erwartete, dass sie sich danach richteten. In diesem Fall hielt sie zweifelsohne die Zügel in der Hand, nämlich die Verfügungsgewalt über die Finanzen.

      John registrierte meine Überraschung, als er mir von der Wiederverheiratung seiner Mutter erzählte, und lächelte etwas verlegen.

      »Und zu allem Überfluss ist er auch noch ein mieser kleiner Lump!«, sagte er heftig. »Ich kann dir sagen, Hastings, der macht uns das Leben ziemlich schwer. Und bei Evie – du erinnerst dich doch noch an Evie?«

      »Nein.«

      »Ach, dann kam sie erst nach deiner Zeit. Sie ist Mutters Mädchen für alles, ihre Gesellschafterin, ihr Faktotum. Sie ist große Klasse, die alte Evie! Nicht gerade jung und schön, aber jemand zum Pferdestehlen.«

      »Du wolltest gerade sagen …«

      »Ach ja, dieser Kerl! Der tauchte irgendwann einfach auf und behauptete, er wäre ein entfernter Verwandter von Evie, obwohl die nicht so aussah, als ob ihr an dieser Verwandtschaft fürchterlich viel gelegen wäre. Der Kerl ist ein totaler Außenseiter, das sieht man auf Anhieb. Er hat einen schwarzen Vollbart und trägt bei jedem Wetter Lackschuhe! Aber unsere Mutter war sofort von ihm begeistert und stellte ihn als ihren Sekretär ein – wie du weißt, ist sie ja immer die Vorsitzende von hundert Vereinen.«

      Ich nickte.

      »Tja, seit dem Krieg sind es nicht mehr hunderte, sondern tausende. Zweifellos war der Kerl ihr ganz nützlich. Aber uns traf beinahe der Schlag, als sie uns vor drei Monaten plötzlich mitteilte, dass sie und Alfred verlobt wären! Der Kerl ist mindestens zwanzig Jahre jünger als sie! Er hatte es zweifellos auf ihr Geld abgesehen – aber was soll man machen – sie tut, was sie will, und also hat sie ihn geheiratet.«

      »Das muss für euch ja eine schwierige Situation sein.«

      »Schwierig! Sie ist verteufelt unangenehm!«

      So geschah es dann, dass ich drei Tage später in Styles St. Mary aus dem Zug stieg, an einem winzigen Bahnhof, der ohne sichtbare Daseinsberechtigung inmitten von grünen Feldern und Landstraßen lag. John Cavendish wartete auf dem Bahnsteig und geleitete mich zu seinem Auto.

      »Wie du siehst, habe ich immer noch ein bisschen Benzin«, bemerkte er. »Das verdanke ich hauptsächlich den Aktivitäten unserer Mutter.«

      Das Dorf Styles St. Mary war etwa zwei Meilen weit entfernt und Styles Court lag eine Meile dahinter. Es war ein ruhiger warmer Tag Anfang Juli. Beim Anblick dieser grünen, friedlich im nachmittäglichen Sonnenschein liegenden Ebene von Essex konnte man sich kaum vorstellen, dass gar nicht so weit entfernt ein Weltkrieg wütete. Mir war, als hätte ich mich plötzlich in eine andere Welt verirrt.

      »Ich fürchte, Hastings, du wirst es hier sehr ruhig finden.«

      »Aber lieber Freund, das ist genau das, was ich mir gewünscht habe.«

      »Na ja, es ist ganz schön, wenn man ein Faulenzerleben führen will. Ich exerziere zweimal wöchentlich mit der freiwilligen Bürgerwehr und helfe den Bauern. Meine Frau arbeitet regelmäßig bei der Landhilfe mit. Sie steht jeden Morgen um fünf Uhr auf und melkt die Kühe und dann macht sie weiter bis mittags. Alles in allem ist es eigentlich ein ganz angenehmes Leben – wenn da bloß nicht dieser Alfred Inglethorp wäre!« Plötzlich verlangsamte er die Geschwindigkeit und sah auf seine Uhr. »Vielleicht haben wir ja noch genug Zeit, um Cynthia abzuholen. Nein, sie wird das Krankenhaus jetzt wohl schon verlassen haben.«

      »Cynthia? Das ist doch nicht deine Frau?«

      »Nein, Cynthia ist ein Schützling meiner Mutter, die Tochter einer alten Schulfreundin, die einen üblen Advokaten heiratete. Er machte Pleite und bald darauf war das Mädchen verwaist und völlig mittellos. Meine Mutter nahm sie auf und jetzt lebt Cynthia schon fast zwei Jahre bei uns. Sie arbeitet übrigens im Roten-Kreuz-Krankenhaus in Tadminster, etwa sieben Meilen von hier.«

      Während seiner letzten Worte fuhren wir vor dem schönen alten Haus vor. Eine Frau in dickem Tweedrock beugte sich gerade über ein Blumenbeet und richtete sich auf, als wir näher kamen.

      »Hallo, Evie, hier ist unser verwundeter Held! Mr Hastings – Miss Howard.«

      Miss Howard schüttelte mir die Hand mit festem, fast schmerzhaftem Griff. Ich blickte in sehr blaue Augen in einem sonnengebräunten Gesicht. Sie war eine sympathische Frau um die vierzig, von herbem


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