Das fehlende Glied in der Kette. Agatha Christie

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Das fehlende Glied in der Kette - Agatha Christie


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junge und ziemlich erschrocken dreinschauende Krankenschwester erschien mit einer Flasche, die sie Nibs geben wollte. Doch die verwies sie an Cynthia mit der ziemlich rätselhaften Bemerkung weiter: »Ich bin heute eigentlich gar nicht da.«

      Cynthia nahm die Flasche und begutachtete sie mit der Strenge eines Richters.

      »Das hätte schon heute Morgen hier herauf geschickt werden müssen.«

      »Der Schwester tut das sehr leid. Sie hat es vergessen.«

      »Die Schwester sollte die Anweisungen draußen an der Tür lesen.«

      Der Ausdruck auf dem Gesicht der kleinen Krankenschwester verriet mir, dass sie der gefürchteten Oberschwester diese Botschaft bestimmt nicht ausrichten würde.

      »Das kann deshalb erst morgen erledigt werden«, beendete Cynthia ihren Satz.

      »Könnten wir es nicht vielleicht heute noch kriegen?«

      »Hm. Wir sind zwar sehr beschäftigt, aber wenn wir es schaffen, dann bekommen Sie es«, sagte Cynthia gnädig.

      Die kleine Krankenschwester ging wieder und sofort nahm Cynthia ein Glasgefäß vom Regal, füllte die Flasche wieder auf und stellte sie auf den Tisch draußen auf dem Flur.

      Ich lachte.

      »Die Disziplin muss gewahrt werden?«

      »Ganz recht. Kommen Sie auf unseren kleinen Balkon. Von dort aus können Sie alle anderen Stationen sehen.«

      Ich folgte Cynthia und ihrer Freundin und sie zeigten auf die verschiedenen Stationen und erklärten sie mir. Lawrence blieb drinnen, aber schon kurz darauf rief Cynthia ihm zu, er solle doch zu uns nach draußen kommen. Dann sah sie auf ihre Uhr.

      »Nichts mehr zu tun, Nibs?«

      »Nein.«

      »Wie schön. Dann können wir ja zuschließen und gehen.«

      An diesem Nachmittag hatte ich Lawrence von einer ganz neuen Seite kennengelernt. Im Vergleich zu John war er sehr verschlossen, und man kam nur sehr schwer an ihn heran. Er war in fast jeder Hinsicht das genaue Gegenteil seines Bruders: ungewöhnlich schüchtern und zurückhaltend. Dennoch besaß er einen gewissen Charme, und ich gewann den Eindruck, dass man ihn bei näherem Kennenlernen sehr lieb gewinnen konnte. Ich hatte mir immer eingebildet, sein Verhalten Cynthia gegenüber wäre eher zurückhaltend und sie verhielte sich in seiner Gegenwart eher schüchtern. Aber an diesem Nachmittag waren beide äußerst fröhlich und schwatzten miteinander wie zwei Kinder.

      Als wir durchs Dorf fuhren, fiel mir ein, dass ich noch Briefmarken brauchte, deshalb hielten wir vor der Post an.

      Beim Herauskommen stieß ich mit einem kleinen Mann zusammen, der gerade hineinging. Ich wich zur Seite und entschuldigte mich, als er mich plötzlich mit einem lauten Ausruf in die Arme schloss und herzlich küsste.

      »Mon ami Hastings!«, rief er. »Das ist ja tatsächlich mon ami Hastings!«

      »Poirot!«

      Ich ging mit ihm zu der Ponykutsche.

      »Das ist ein sehr erfreuliches Wiedersehen für mich, Miss Cynthia. Darf ich Ihnen meinen alten Freund, Monsieur Poirot, vorstellen? Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen.«

      »Oh, wir kennen Monsieur Poirot«, sagte Cynthia fröhlich. »Wir hatten aber keine Ahnung, dass er ein Freund von Ihnen ist.«

      »Natürlich kenne ich Mademoiselle Cynthia«, sagte Poirot ernst. »Meine Anwesenheit hier ist eine Folge von Mrs Inglethorps Güte.« Als ich ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Ja, mein Freund, sie hat ihre Gastfreundschaft auch sieben meiner Landsleute zuteilwerden lassen, die unglücklicherweise als Flüchtlinge ihre Heimat verlassen mussten. Wir Belgier werden ihrer immer mit höchster Dankbarkeit gedenken.«

      Poirot war ein kleiner Mann von ungewöhnlichem Aussehen. Er war knapp einen Meter sechzig groß, aber seine Haltung verriet Würde. Sein Kopf hatte genau die Form eines Eies, und er neigte ihn stets ein wenig zur Seite. Sein Schnurrbart war mit militärischer Strenge steif gezwirbelt. Seine Erscheinung war von geradezu unglaublicher Korrektheit, wahrscheinlich hätte ihm ein Staubkorn mehr Unbehagen verursacht als eine Schusswunde. Doch zu meinem Bedauern musste ich feststellen, dass dieser seltsame geschniegelte kleine Mann jetzt stark hinkte, er, der doch zu seiner Zeit einer der berühmtesten Mitarbeiter der belgischen Kriminalpolizei gewesen war. Für einen Detektiv hatte er ein außergewöhnliches Flair bewiesen, und er hatte Triumphe gefeiert, als er einige der rätselhaftesten Fälle seiner Zeit gelöst hatte.

      Er wies auf das kleine Haus, das er zusammen mit seinen Landsleuten bewohnte, und ich versprach, ihn so bald wie möglich zu besuchen. Dann lüftete er Cynthia gegenüber schwungvoll seinen Hut und wir fuhren weiter.

      »Er ist ein reizender kleiner Mann«, sagte Cynthia, »ich hatte keine Ahnung, dass Sie ihn kennen.«

      »Sie hatten eine Berühmtheit zu Gast und waren sich dessen nicht bewusst«, erwiderte ich.

      Dann erzählte ich ihnen auf dem Rest des Heimwegs von den verschiedenen Heldentaten und Triumphen Hercule Poirots.

      In bester Stimmung kehrten wir heim. Als wir die Eingangshalle betraten, kam gerade Mrs Inglethorp aus ihrem Boudoir. Ihr Gesicht war gerötet und sie sah aufgebracht aus.

      »Ach, ihr seid es«, sagte sie.

      »Stimmt irgendetwas nicht, Tante Emily?«, fragte Cynthia.

      »Nein, alles ist bestens«, erwiderte Mrs Inglethorp scharf. »Was sollte nicht stimmen?« Dann sah sie das Stubenmädchen Dorcas, die eben ins Esszimmer gehen wollte, und rief ihr zu, sie möge ihr ein paar Briefmarken in ihr Boudoir bringen.

      »Sehr wohl, gnädige Frau.« Das alte Dienstmädchen zögerte, dann fügte sie zaghaft hinzu: »Sollten Sie nicht lieber zu Bett gehen? Sie sehen sehr müde aus.«

      »Vielleicht hast du recht, Dorcas, ja – nein – noch nicht. Ich muss noch einige Briefe beenden, damit sie rechtzeitig zur Post kommen. Hast du in meinem Zimmer das Kaminfeuer angezündet, wie ich es dir gesagt habe?«

      »Ja, gnädige Frau.«

      »Dann werde ich gleich nach dem Abendessen zu Bett gehen.«

      Sie verschwand wieder in ihrem Boudoir und Cynthia starrte ihr nach.

      »Ach, du liebe Güte! Ich möchte nur wissen, was wieder los ist!«, sagte sie zu Lawrence.

      Anscheinend hatte er sie nicht gehört, denn er drehte sich wortlos auf dem Absatz um und verließ das Haus.

      Ich schlug ein kurzes Tennismatch vor dem Abendessen vor, Cynthia stimmte zu und ich rannte nach oben, um meinen Schläger zu holen.

      Auf der Treppe begegnete ich Mrs Cavendish. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber auch sie machte einen seltsam verstörten Eindruck.

      »Hatten Sie einen angenehmen Spaziergang mit Doctor Bauerstein?«, erkundigte ich mich und versuchte möglichst gleichgültig zu wirken.

      »Ich bin nicht weggegangen«, erwiderte sie knapp. »Wo ist Mrs Inglethorp?«

      »In ihrem Boudoir.«

      Ihre Hand umklammerte das Geländer, dann schien sie sich für eine Begegnung stark genug zu fühlen und schritt rasch an mir vorbei nach unten, durchquerte die Halle bis zur Tür des Boudoirs und schloss sie hinter sich.

      Als ich kurz darauf zum Tennisplatz lief, musste ich am geöffneten Fenster des Boudoirs vorbei und konnte nicht verhindern, dass ich den folgenden Gesprächsfetzen auffing. Mrs Cavendish sagte mit der Stimme einer Frau, die sich verzweifelt um Selbstkontrolle bemüht: »Du willst es mir also nicht zeigen?«

      Worauf Mrs Inglethorp erwiderte: »Meine liebe Mary, das hat mit der Sache überhaupt nichts zu tun.«

      »Dann zeig es mir doch.«

      »Ich habe dir doch schon gesagt, es ist nicht das, was du denkst. Es betrifft dich nicht im Geringsten.«

      Mrs


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