Das fehlende Glied in der Kette. Agatha Christie

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Das fehlende Glied in der Kette - Agatha Christie


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      Cynthia wartete schon auf mich und begrüßte mich eifrig: »Also so was! Es hat einen fürchterlichen Krach gegeben! Dorcas hat mir alles erzählt.«

      »Was für einen Krach?«

      »Zwischen Tante Emily und ihm. Ich kann nur hoffen, dass sie ihm endlich auf die Schliche gekommen ist!«

      »War Dorcas denn dabei?«

      »Natürlich nicht. Sie war nur zufällig nah an der Tür. Es war ein richtiger mordsmäßiger Stunk. Ach, ich wünschte, ich wüsste, worum es dabei ging.«

      Ich dachte an Mrs Raikes’ hübsches Gesicht und an Evelyn Howards Warnung, aber ich beschloss klugerweise, mich da herauszuhalten, während Cynthia alle nur denkbaren Hypothesen durchspielte und fröhlich der Hoffnung Ausdruck verlieh: »Tante Emily wird ihn wegschicken und nie wieder mit ihm reden.«

      Ich hätte gern John zu fassen bekommen, aber er war nirgendwo zu sehen. Offensichtlich hatte sich heute Nachmittag etwas Folgenschweres ereignet. Ich versuchte die wenigen Worte zu vergessen, die ich zufällig mit angehört hatte, aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte sie nicht aus meinem Gedächtnis löschen. Was hatte Mrs Cavendish mit der Angelegenheit zu schaffen?

      Als ich zum Essen herunterkam, war Mr Inglethorp im Salon. Sein Gesicht war so verschlossen wie immer, und wieder fiel mir auf, wie seltsam unecht der Mann aussah.

      Mrs Inglethorp kam als Letzte nach unten. Sie wirkte immer noch aufgewühlt, und während der Mahlzeit herrschte ein sonderbar angespanntes Schweigen. Mr Inglethorp war ungewöhnlich schweigsam. Sonst umgab er seine Frau immer mit kleinen Aufmerksamkeiten, brachte ihr ein Kissen als Rückenstütze und spielte insgesamt die Rolle des ergebenen Gatten. Gleich nach dem Essen zog sich Mrs Inglethorp wieder in ihr Boudoir zurück.

      »Lass mir den Kaffee hier servieren, Mary«, rief sie. »Ich habe nur noch fünf Minuten, bis die Post abgeholt wird.«

      Cynthia und ich setzten uns an das offene Fenster des Salons. Mrs Cavendish brachte uns unseren Kaffee. Sie wirkte aufgeregt.

      »Wollt ihr jungen Leute etwas Licht oder genießt ihr das Zwielicht?«, fragte sie. »Bringst du Mrs Inglethorp ihren Kaffee, Cynthia? Ich schenke ihn schon mal ein.«

      »Bemühe dich nicht, Mary«, sagte Mr Inglethorp. »Ich werde ihn Emily bringen.« Er goss eine Tasse ein und trug sie vorsichtig aus dem Zimmer.

      Lawrence folgte ihm und Mrs Cavendish gesellte sich zu uns.

      Eine Zeit lang saßen wir schweigend beisammen. Es war eine herrliche Nacht, warm und still. Mrs Cavendish fächelte sich mit einem Palmwedel frische Luft zu. »Es ist fast zu heiß«, murmelte sie. »Wir werden ein Gewitter bekommen.«

      Ach, leider sind solche Zeiten der Harmonie immer nur von kurzer Dauer! Mein Paradies wurde durch den Klang einer wohl bekannten und herzlich verhassten Stimme aus der Eingangshalle brutal zerstört.

      »Doctor Bauerstein!«, rief Cynthia aus. »Was für eine seltsame Zeit für einen Besuch.«

      Ich sah eifersüchtig kurz zu Mrs Cavendish hinüber, aber sie schien völlig unbeeindruckt und die zarte Blässe ihrer Wangen veränderte sich nicht.

      Einige Augenblicke später führte Alfred Inglethorp den Doctor herein, der lachend behauptete, er befände sich nicht in einer salonfähigen Aufmachung. Er bot auch wirklich einen traurigen Anblick, weil er buchstäblich von oben bis unten mit Schlamm bespritzt war.

      »Was haben Sie denn nur angestellt, Doctor?«, rief Mrs Cavendish.

      »Bitte entschuldigen Sie vielmals«, sagte der Doctor. »Ich hatte wirklich nicht vor, hereinzukommen, aber Mr Inglethorp bestand darauf.«

      »Na, Bauerstein, Sie sehen ja höchst bedauernswert aus«, sagte John, der gerade aus der Halle hereinkam. »Trinken Sie eine Tasse Kaffee und erzählen Sie uns, was Sie angestellt haben.«

      »Danke, gern.« Lachend erzählte er, wie er eine sehr seltene Farnart an einer unzugänglichen Stelle entdeckt hatte. Bei seinen Bemühungen, sie zu pflücken, hatte er den Halt verloren und war schmachvoll in einen Teich gerutscht.

      »Die Sonne trocknete mich bald«, fuhr er fort, »aber leider ist mein Aufzug nicht gerade gesellschaftsfähig.«

      In diesem Moment rief Mrs Inglethorp Cynthia zu sich und das Mädchen lief raus in die Halle.

      »Bring doch eben rasch meinen Aktenkoffer nach oben, meine Liebe. Ich will ins Bett gehen.«

      Die Tür zur Eingangshalle stand weit offen. Als Cynthia aufstand, hatte ich mich ebenfalls erhoben, und John stand neben mir. Es gab deshalb drei Zeugen, die beschwören konnten, dass Mrs Inglethorp ihre noch volle Kaffeetasse in der Hand hielt. Mir war der Abend durch die Anwesenheit von Doctor Bauerstein total verdorben worden. Es schien so, als ob der Mann überhaupt nicht mehr gehen wollte. Aber dann stand er schließlich doch auf und ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

      »Ich begleite Sie noch bis zum Dorf«, sagte Mr Inglethorp.

      »Ich muss mit unserem Verwalter noch etwas wegen der Abrechnungen besprechen.« Er wandte sich an John. »Ihr braucht deshalb nicht aufzubleiben. Ich nehme den Hausschlüssel mit.«

      3 Die Nacht der Tragödie

      Damit der folgende Teil meiner Erzählung verständlicher wird, füge ich einen Plan des ersten Stockwerks des Herrenhauses bei.

      Zu den Dienstbotenzimmern gelangt man durch die Tür B. Sie sind vom rechten Flügel aus nicht erreichbar, wo sich die Zimmer der Inglethorps befanden.

      Mir erschien es wie mitten in der Nacht, als Lawrence Cavendish mich weckte. Er hielt eine Kerze in der Hand, und sein aufgeregter Gesichtsausdruck verriet mir gleich, dass etwas Schlimmes geschehen war.

      »Was ist los?«, fragte ich, setzte mich im Bett auf und versuchte, Ordnung in meine verwirrten Gedanken zu bringen.

      »Wir befürchten, dass unsere Mutter ernstlich erkrankt ist. Sie hat offensichtlich eine Art Anfall. Unglücklicherweise hat sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.«

      »Ich komme sofort.«

      Ich sprang aus dem Bett, schlüpfte in meinen Morgenmantel und folgte Lawrence über den Flur und die Galerie in den rechten Flügel des Hauses.

      John Cavendish schloss sich uns an und ein oder zwei Dienstboten standen herum und wirkten schrecklich aufgeregt.

      Lawrence wandte sich an seinen Bruder: »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

      Niemals, so dachte ich, hatte sich die Unentschlossenheit seines Charakters deutlicher gezeigt.

      John rüttelte heftig an der Klinke von Mrs Inglethorps Tür, aber ohne Erfolg. Die Tür war von innen offensichtlich verschlossen oder verriegelt. Mittlerweile waren alle im Haus geweckt worden. Aus dem verschlossenen Zimmer drangen höchst erschreckende Geräusche. Es musste unbedingt etwas geschehen.

      »Versuchen Sie doch durch Mr Inglethorps Zimmer hineinzukommen«, schrie Dorcas. »Ach, die arme gnädige Frau!«

      Plötzlich wurde ich gewahr, dass Alfred Inglethorp sich nicht bei uns befand – er war der Einzige, der fehlte. John öffnete die Tür von Alfred Inglethorps Zimmer. Dort war es stockduster, aber Lawrence folgte John mit der Kerze, und in deren schwachem Schein sahen wir, dass das Bett unberührt war und es keinerlei Anzeichen gab, dass sich jemand in dem Raum aufgehalten hatte.

      Wir gingen schnurstracks zur Verbindungstür. Auch sie war von innen verschlossen oder verriegelt. Was nun?

      »Ach herrje, Sir«, rief Dorcas und rang die Hände. »Was sollen wir nur tun?«

      »Wir müssen wohl versuchen, die Tür aufzubrechen. Aber das wird sehr schwierig werden. Eines der Hausmädchen soll runterlaufen und Baily wecken, damit er sofort Dr. Wilkins holen geht. Also, dann lasst uns die Tür aufbrechen! Doch Moment mal,


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