Das fehlende Glied in der Kette. Agatha Christie

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Das fehlende Glied in der Kette - Agatha Christie


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Mrs Cavendish plötzlich von der Gruppe, überquerte die Auffahrt und ging einem hoch gewachsenen, bärtigen Mann entgegen, der offensichtlich auf dem Weg zum Haus war. Während sie ihm die Hand entgegenstreckte, stieg ihr das Blut in die Wangen.

      »Wer ist das?«, fragte ich ungehalten, denn instinktiv lehnte ich diesen Mann ab.

      »Das ist Dr. Bauerstein«, antwortete John knapp.

      »Und wer ist Dr. Bauerstein?«

      »Er wohnt zurzeit im Dorf und erholt sich von einem schweren Nervenzusammenbruch. Er ist ein Londoner Wissenschaftler. Ein sehr kluger Mann – einer der bedeutendsten Experten unserer Zeit für Gifte, glaube ich.«

      »Und er ist ein enger Freund von Mary«, warf Cynthia ein, die sich immer einmischen musste.

      John Cavendish runzelte die Stirn und wechselte das Thema.

      »Komm, Hastings, lass uns ein Stück spazieren gehen. Das war ja eine höchst peinliche Angelegenheit. Sie hatte schon immer eine scharfe Zunge, aber es gibt in ganz England keine zuverlässigere Freundin als Evelyn Howard.«

      Wir liefen auf dem Feldweg zum Dorf und weiter bis zum Wald, der an das Gut grenzte.

      Als wir auf unserem Rückweg wieder durch das Parktor kamen, begegnete uns eine hübsche, junge, etwas zigeunerhafte Frau, die uns lächelnd grüßte.

      »Das ist aber ein hübsches Mädchen«, bemerkte ich anerkennend.

      Johns Gesicht verfinsterte sich.

      »Das ist Mrs Raikes.«

      »Die, von der Miss Howard –«

      »Genau«, erwiderte John unnötig schroff.

      Ich dachte an die weißhaarige alte Dame im Herrenhaus und an das strahlende, schalkhafte kleine Gesicht, das uns eben zugelächelt hatte, und eine unbestimmte böse Vorahnung beschlich mich. Ich ignorierte sie jedoch.

      »Styles ist wirklich ein wundervolles altes Haus«, sagte ich zu John.

      Er nickte, doch er wirkte ziemlich bedrückt.

      »Ja, es ist ein schöner Besitz. Eines Tages werde ich ihn erben – eigentlich müsste er mir schon längst gehören, wenn mein Vater damals ein gerechtes Testament gemacht hätte. Dann wäre ich nicht so knapp bei Kasse, wie ich es jetzt bin.«

      »Was, du bist knapp bei Kasse?«

      »Mein lieber Hastings, ich sage dir in aller Offenheit, dass ich vor lauter Geldsorgen nicht mehr weiterweiß.«

      »Könnte dir denn dein Bruder nicht helfen?«

      »Lawrence? Der hat jeden Penny, den er jemals hatte, für die Veröffentlichung seiner Gedichte in Luxusbänden ausgegeben. Nein, wir sind arm wie die Kirchenmäuse. Meine Mutter hat sich uns gegenüber immer äußerst großzügig verhalten – das heißt, bis jetzt. Seit ihrer Heirat natürlich …« Er brach ab und sah sorgenvoll drein.

      Ich spürte, dass zusammen mit Evie etwas Undefinierbares aus der Atmosphäre verschwunden war. Ihre Anwesenheit hatte Sicherheit bedeutet. Jetzt war diese Sicherheit verschwunden und nun war die Luft voller Verdächtigungen. Das finstere Gesicht von Doctor Bauerstein stieg unangenehm vor meinem inneren Auge auf. Ein unbestimmter Verdacht gegen alles und jedes erfüllte mich. Einen Augenblick lang bedrückte mich die Vorahnung eines näher kommenden Unheils.

      2 Der 16. und 17. Juli

      Am 5. Juli war ich in Styles angekommen. Im Folgenden berichte ich vom 16. und 17. dieses Monats. Zur besseren Orientierung der Leser werde ich die Ereignisse jener Tage so exakt wie möglich wiedergeben. Sie wurden später bei der Gerichtsverhandlung während langwieriger Kreuzverhöre ans Tageslicht gebracht.

      Einige Tage nach ihrer Abreise erhielt ich einen Brief von Evelyn Howard, in dem sie mir mitteilte, sie arbeite als Krankenschwester in einem großen Krankenhaus in einer etwa fünfzehn Meilen entfernten Industriestadt. Sie bat mich um eine Mitteilung, falls Mrs Inglethorp je den Wunsch äußerte, sich wieder mit ihr zu versöhnen.

      Das einzig Störende während dieser friedlichen Tage war Mrs Cavendishs höchst merkwürdige und in meinen Augen völlig ungerechtfertigte Vorliebe für die Gesellschaft Doctor Bauersteins. Ich konnte nicht begreifen, was sie in diesem Mann sah, aber sie lud ihn ständig ins Haus ein und machte häufig Ausflüge mit ihm. Ich muss gestehen, dass ich nichts Anziehendes an ihm bemerkte.

      Der 16. Juli fiel auf einen Montag. Es war ein chaotischer Tag. Der angekündigte Basar hatte am Samstag stattgefunden und an diesem Abend sollte nun während einer damit verbundenen gesellschaftlichen Veranstaltung Mrs Inglethorp ein Kriegsgedicht rezitieren. Am Vormittag waren wir alle eifrig beschäftigt, den Dorfsaal, wo das Ereignis stattfinden sollte, herzurichten und zu dekorieren. Wir nahmen mittags einen späten Imbiss zu uns und verbrachten den Nachmittag im Garten. Mir fiel auf, dass John sich anders als sonst verhielt. Er erschien mir sehr aufgeregt und unruhig.

      Nach dem Tee legte sich Mrs Inglethorp hin, um vor den abendlichen Anstrengungen auszuruhen, und ich forderte Mary Cavendish zu einem Tennisspiel auf.

      Ungefähr um Viertel vor sieben trieb Mrs Inglethorp uns zur Eile an, weil wir sonst zum Abendessen zu spät kämen, da an diesem Abend früher als gewöhnlich gegessen wurde. Wir mussten uns sehr beeilen, um rechtzeitig fertig zu werden, und noch vor Beendigung der Mahlzeit wartete schon das Auto vor der Tür.

      Die Veranstaltung wurde ein großer Erfolg, Mrs Inglethorps Rezitation erhielt donnernden Beifall. Es wurden auch noch lebende Bilder gestellt, wobei Cynthia mitmachte. Sie kehrte nicht mit uns zurück, da sie noch zu einem Essen eingeladen war und den Abend mit ein paar Freunden verbringen wollte, die bei den lebenden Bildern mitgewirkt hatten.

      Am folgenden Morgen frühstückte Mrs Inglethorp im Bett, da sie ziemlich erschöpft war, aber sie kam äußerst energiegeladen gegen halb eins nach unten und rauschte mit Lawrence und mir im Schlepptau zu einer Luncheinladung davon.

      »Was für eine reizende Einladung von Mrs Rolleston. Sie ist Lady Tadminsters Schwester, müssen Sie wissen. Die Rollestons kamen schon mit Wilhelm dem Eroberer nach England – eine unserer ältesten Familien.«

      Mary hatte sich entschuldigt, sie hätte eine Verabredung mit Doctor Bauerstein.

      Die Mahlzeit verlief sehr vergnüglich, und als wir losfuhren, machte Lawrence den Vorschlag, über Tadminster zurückzukehren, was höchstens eine Meile Umweg bedeutete, und bei Cynthia in ihrer Apotheke eine Stippvisite einzulegen. Mrs Inglethorp erwiderte, das sei eine glänzende Idee, aber da sie noch mehrere Briefe zu schreiben hatte, würde sie uns dort absetzen, und wir wollten dann später mit Cynthia in der Ponykutsche zurückkehren.

      Wir wurden von einem misstrauischen Krankenhauspförtner festgehalten, bis Cynthia erschien und sich für uns verbürgte. In ihrer weißen Tracht sah sie sehr adrett und hübsch aus. Sie nahm uns nach oben in ihr Allerheiligstes mit und stellte uns ihrer Kollegin vor, einer furchteinflößenden Person, die Cynthia fröhlich mit Nibs anredete.

      »Was für eine Menge Flaschen!«, rief ich aus, als ich meinen Blick in dem kleinen Raum herumwandern ließ. »Wissen Sie wirklich, was in jeder drin ist?«

      »Sagen Sie doch mal was Originelles«, stöhnte Cynthia. »Jeder, der hier hochkommt, fragt dasselbe. Wir haben uns schon überlegt, ob wir dem Ersten, der das nicht sagt, einen Preis geben sollen. Und ich weiß auch schon, was Sie als Nächstes sagen werden: Wie viele Menschen haben Sie schon vergiftet?«

      Ich lachte und bekannte mich schuldig.

      »Wenn ihr wüsstet, wie schrecklich leicht es ist, jemanden aus Versehen zu vergiften, würdet ihr keine Witze drüber machen. Kommt, lasst uns Tee trinken gehen. Wir haben alle möglichen geheimen Vorräte in diesem Regal. Nein, Lawrence, das ist der Giftschrank. Der große da, stimmt.«

      Wir tranken in ausgelassener Stimmung unseren Tee und halfen Cynthia hinterher beim Abwaschen. Gerade als wir den letzten Teelöffel weggeräumt hatten, klopfte es an die Tür.

      Cynthia und Nibs sahen plötzlich


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