Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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Mal seinen Sohn dort sitzen, wo Rachmann jetzt saß, mit hingerissener Miene, den Kopf voller Ideen, die Julius mit Bedacht dort eingepflanzt und eifrig gehegt hatte. Als der Junge zur Welt kam, war es mehr eine Spielerei gewesen, über Orte und Kunstwerke nachzudenken, die die Phantasie eines Kindes am besten anregten und sein ästhetisches Feingefühl förderten. Er nahm die Tierbilder ab, die Luisa im Kinderzimmer aufgehängt hatte, und ersetzte sie durch zwei Aquarelle von Pissarro, eine Bäuerin in blauer Schürze und eine zweite, die ihre Haare flocht.

      »Warum kümmert dich das überhaupt?«, wandte Luisa ein, doch er bestand darauf. Ein Kind war noch formbar, wie Ton. Er würde nicht zulassen, dass sein Sohn durch etwas verrohte, das brutal, geistlos und hässlich war.

      Was für eine Hoffnung hatte der Junge jetzt noch, abgeschottet in München bei Luisas Eltern? Sie würden dem Jungen eine bayerische Provinzialität einimpfen, ihn mit Böcklin-Reproduktionen, Lederhosen und rabiaten Spielen im Freien ersticken. Julius war in Gesellschaft solcher Jungen aufgewachsen. Er hatte sie alle verachtet.

      Er zeigte Rachmann van Goghs Zeichnung des Mädchens in der gestreiften Jacke, von Vincent La Mousmé genannt, als Frau Lang an die Tür klopfte. Er hatte gar nicht gemerkt, wie spät es schon war. Widerstrebend legte Rachmann die Zeichnung nieder, als könnte er sich nur schwer davon trennen.

      »Überfallen Sie mich doch bald einmal wieder«, sagte Julius beim Abschied, und es gab ihm ein Hochgefühl, wie das Gesicht des jungen Mannes daraufhin zu strahlen begann, wie unverhohlen er seine Freude zeigte. Julius wollte an jenem Abend zu einem Konzert in der Philharmonie, und er hätte eigentlich nach oben gehen und sich umziehen müssen, doch er blieb in seinem Arbeitszimmer, eine Hand an der Lehne des Stuhls, auf dem Rachmann gesessen hatte. Auf dem Tisch glänzte goldgelb der Apfelkuchen, umgeben von butterigen Bröseln. Julius hätte Rachmann den Kuchen mitgeben sollen, Frau Lang hätte ihm einen Korb zusammengepackt. Er hätte ihm Geld aufdrängen, ihm heimlich ein paar Scheine in die Jackentasche stecken sollen. Von nur einem Dollar hätte er wochenlang leben können. Stattdessen hatte er den Jungen mit leeren Händen ziehen lassen, er, Julius, der wie König Midas von Tag zu Tag reicher wurde und dafür keinen Finger rühren musste.

      Er machte sich auf den Weg zu Böhm. Es schneite ein wenig, der erste Schnee des Winters. Fröstelnd rief Julius eine Pferdedroschke. Bis vor kurzem waren Droschken ein Relikt aus vergangenen Zeiten gewesen. Jetzt sah man sie auf einmal wieder. Die Droschke war alt und klapprig, das Pferd bestand nur aus Haut und Knochen, aber Julius war trotzdem froh darüber. In Berlin war es nicht mehr sicher. Jeden Tag gab es neue Gerüchte, die einen wütenden Mob auf die Straßen trieb: dass die staatliche Arbeitslosenversicherung eingestellt werden sollte, dass die Bauern Lebensmittel horteten, dass die Wurst auf dem Fleischmarkt aus Menschenfleisch bestand. Man gab den Politikern, den Geschäftsleuten, den Juden die Schuld. Als Enkel eines Juden, der dreißig Jahre vor Julius’ Geburt zum Protestantismus konvertiert war, wusste Julius, was der Stempel »Jude« bedeuten konnte – seine mangelnde Wertschätzung der deutschen Kunst brachte ihm schon seit langem mehr oder weniger verhüllte Verunglimpfungen durch seine Kritiker ein –, doch es schockierte ihn trotzdem, wie tief der Hass saß und wie gewaltsam er hervorbrach. Im jüdischen Viertel wurden Männer mit Bärten und hohen schwarzen Hüten regelmäßig überfallen, ihrer Kleider beraubt und blutig geschlagen.

      In Böhms Kanzlei brannte kein Feuer im Kamin, und im Zimmer war es so kalt, dass Julius seinen Atem sehen konnte. Er behielt seinen Mantel an. Der Anwalt bat um Entschuldigung, die Zivilgerichte seien noch immer schrecklich überlastet, man habe ihm noch nicht einmal ein Datum für eine erste Anhörung genannt, aber Julius war nicht wegen der Scheidung hier. Er erklärte Böhm, er wolle Vorsorge für seinen Sohn treffen und eine Treuhandschaft für ihn bis zu seiner Volljährigkeit einrichten.

      »Sie wollen ihn absichern?«, entgegnete Böhm zweifelnd. »Mit Geld?«

      Julius nickte. Kaum jemand in Berlin bezahlte noch mit Geld. Die Preise waren Phantasiepreise – ein einzelnes Streichholz für 900 Millionen Mark – und änderten sich sechsmal täglich, man hatte nie genug Bares dabei. In dem Kino neben Böhms Kanzlei stand auf dem Schild an der Kasse: Eintritt: zwei Stück Kohle. Die berühmtesten Ärzte Berlins ließen sich in Form von Lebensmitteln bezahlen.

      »Eintausend amerikanische Dollar«, sagte Julius. »Ich möchte, dass er frei ist.«

      »Dann kaufen Sie ihm ein Haus. Kaufen Sie ihm zwei Häuser. Eine Sachanlage, die im Wert steigt und Einnahmen bringt.«

      »Sie meinen wohl, ich soll es meinen Mitbürgern stehlen? Das kann ich nicht. Und außerdem, warum sollte ich das Risiko eingehen? Wissen Sie, wie schnell der Dollar steigt? Es heißt, morgen wird er die 700-Milliarden-Marke reißen.«

      Böhm gluckste. »Bei allem Respekt, Julius, Ihr Sohn ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Glauben Sie, das wird so weitergehen, bis er einundzwanzig ist?«

      Bei den Zeitungen wurde gestreikt. Die Kioske an den Straßenecken waren leer und gegen die Kälte verrammelt. Schon seit Monaten waren die Schlagzeilen düster gewesen, Julius konnte sich kaum überwinden, sie zu lesen, aber die Worte hatten wenigstens Ordnung geschaffen, das herrschende Chaos in einen Rahmen gebannt, zwischen Spalten und Absätze. Ohne sie griff der Wahnsinn um sich, breitete sich aus wie Gas. Niemand wusste mehr, was vor sich ging. Davon geht doch die Welt nicht unter, hatte ihn sein Vater angeschnauzt, wenn Julius als Kind wegen irgendeiner Kleinigkeit geweint hatte. Jetzt fühlte es sich genauso an.

      Er saß gerade beim Frühstück, als das Telefon klingelte. Fräulein Grüber klopfte an die Tür des Speisezimmers. Herr Böhm wünsche ihn zu sprechen, sagte sie, und es sei dringend. Am Hörer schallte ihm Böhms heisere Stimme entgegen. Böhm fragte, ob er schon Radio gehört habe. Die Reichsbank habe endlich auf den Devisenmärkten interveniert. Für die neue Rentenmark sei ein Wechselkurs von 4,2 zum Dollar festgesetzt worden. Auf einen Streich hatte die Bank zwölf Nullen weggestrichen. Niemand konnte sagen, ob es Bestand haben würde, aber falls ja, wäre es mit der Inflation vorbei. Als Böhm auflegte, stand Julius im Morgensalon und starrte zu Boden.

      »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Fräulein Grüber.

      »Ich weiß es nicht.« Er blickte verwirrt auf den Hörer in seiner Hand, dann reichte er ihn der Stenotypistin, die ihn zurück auf die Gabel legte.

      »Sie sehen aus, als wäre Ihnen nicht gut«, sagte sie. »Setzen Sie sich besser hin.«

      Julius schüttelte den Kopf. Er konnte es kaum fassen. Es schien so einfach, so unwahrscheinlich zu sein wie in einem Märchen. Jemand wedelte mit dem Stift wie mit einem Zauberstab, und Simsalabim war der Irrsinn vorbei. Falls es Bestand hatte. Er richtete die Augen auf das Feuer im Kamin neben Fräulein Grübers Schreibtisch, auf die schimmernden Kohlen im Kohleneimer. Falls es Bestand hatte, war er kein reicher Mann mehr.

      Er verließ das Haus. Ihm fiel nichts Besseres ein. Er ging zum Landwehrkanal und wandte sich von dort nach Westen Richtung Zoo. An einem Novembertag wie diesem, fünf Jahre zuvor, hatte Deutschland den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet, der den Krieg beendete. Es war sehr still. Die grauen Gebäude wirkten vor dem fahlen weißen Himmel wie Scherenschnitte und der Kanal wie ein Metallband, in dem sich die kahlen schwarzen Äste der Bäume spiegelten. Julius fühlte sich an eine Fotografie erinnert, es fehlte jede Farbe, und auf einmal hatte er das sichere Gefühl, dass nichts davon real war, dass er ein Darsteller in einem Film war, auf dem Weg in ein Schicksal, das ein anderer für ihn bestimmt hatte.

      Er überquerte die Brücke. Auf der anderen Seite schlenderten ihm zwei Männer entgegen, ins Gespräch vertieft. Der größere der beiden redete eifrig und gestikulierte dabei. Der andere sah aus wie Rachmann. Er war es tatsächlich, wie Julius im Näherkommen feststellte, und als er seine Schritte beschleunigte, blickte Rachmann auf und erkannte ihn. Julius lächelte, doch Rachmann wandte den Kopf ab und murmelte seinem Begleiter etwas zu, der nach einem kurzen Blick zu Julius in eine Nebenstraße davoneilte. Rachmann wartete, bis er außer Sicht war. Dann drehte er sich mit ausgestreckten Armen und lächelnd zurück zu Julius. »Herr Köhler-Schultz, was für eine angenehme Überraschung. Ich hoffe, Sie entschuldigen meinen Bruder. Er hatte eine dringende Verabredung, die keinen Aufschub duldete.«

      »Selbstverständlich.«


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