Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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das von dir oder von Vincent?«

      »Hast du nicht gerade behauptet, das sei egal?«

      »Ist es auch, aber jemand, der sich selbst zitiert, verdient es, wie ein Hummer bei lebendigem Leib gekocht zu werden.«

      »Dann stammt es von ihm. Todsicher.«

      Otto lachte. »Nebenbei bemerkt, ich möchte mir noch ein Bild von ihm zulegen und bin gerade auf der Suche, Nadine wollte schon immer eines seiner Porträts haben, aber bisher keine Chance. Dafür gebe ich dir die Schuld. Seit du ihn zu einer Berühmtheit gemacht hast, bekommt man nichts mehr von ihm, nicht für Geld und gute Worte. Ich habe sogar schon bei der Witwe seines Bruders vorgefühlt, angeblich hortet sie noch ein paar Bilder unter dem Bett, aber wie es scheint, beißt sie nicht an. Du kennst sie, nicht wahr?«

      »Johanna van Gogh? Ein wenig. Vor dem Krieg habe ich sie ein- oder zweimal besucht.«

      »Sie muss dich anbeten, bei deinem Buch? Eine bessere Werbung als deinen Vincent kann man sich nicht vorstellen.«

      »Im Gegenteil, sie hat es mir sehr verübelt. Ich war so frech, nicht unter den Teppich zu kehren, dass sie Theo gedrängt hat, Vincent kein Geld mehr zu geben. In ihrer Version kannte ihre Zuneigung keine Grenzen.«

      »Demnach wäre sie nicht geneigt, dir einen Gefallen zu tun?«

      »Bestimmt nicht.«

      »Jammerschade. Da wäre natürlich immer noch dein Selbstbildnis. Es soll schon vorgekommen sein, dass ein Mann im Zuge einer Scheidung seine Position noch einmal überdacht hat.« Es war nur halb gescherzt. Als Julius ihn aus schmalen Augen ansah, schnaubte Otto. »Ich weiß, du würdest dir lieber die Pulsadern aufschneiden, bla, bla, bla. Hoffen wir um meinetwillen, dass die schöne Luisa dich ordentlich ausnimmt. Bis dahin lass mich wissen, falls du etwas hörst, ja? Natürlich mit der üblichen Provision et cetera.«

      Die übliche Provision betrug zehn Prozent. Julius nickte. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

      Er blieb übers Wochenende. Nadine Metz bestand darauf. Es gebe da eine Dame unter ihren etwa ein Dutzend Gästen, die er unbedingt kennenlernen müsse. Die kürzlich verwitwete Elvira Eberhardt war eine elegante und intelligente Frau. Sie unterhielten sich über den leidenschaftlichen, sprunghaften Schiller und seine lange Freundschaft zu dem kühlen, schweigsamen Goethe. Als junges Mädchen, erzählte Frau Eberhardt, habe ihr Vater sie im Nachthemd nach unten gerufen, damit sie seinen Gästen vor dem Abendessen die Ode an die Freude vorsang.

      »Mein Vater war wie Goethe. Nach außen hin immer kühl. Nicht ein einziges Mal habe ich erlebt, dass er Zuneigung offen gezeigt hätte, nicht einmal meiner Mutter gegenüber, aber bei Beethoven musste er weinen wie ein Kind.«

      Ihre Tochter sei fast erwachsen. »Sie ist in der Schweiz, um den letzten Schliff zu erhalten. Sofern sie nicht vorher alles hinwirft. Es ist die beste Schule dieser Art in ganz Europa, aber meine Tochter findet es dort schrecklich. Sie ist wie ein Hund im Zwinger, der so lange bellt, bis man ihn freilässt. Haben Sie Kinder, Herr Köhler-Schultz?«

      »Eins, einen Jungen, und er ist noch ziemlich weit vom letzten Schliff entfernt. Er steht noch ganz am Anfang.«

      »Sie haben Glück. Jungen sind unkompliziert. Emmeline – ach, Sie werden sie ja morgen kennenlernen.«

      »Sie ist hier?«, fragte Julius überrascht.

      »Das hat sich keiner gewünscht. Otto und Nadine sind sehr verständnisvoll.« Sie seufzte, dann zwang sie sich zu lächeln. »Ich habe überlegt, morgen am See entlangzuwandern. Begleiten Sie uns doch, wenn Sie nicht mit den anderen Schlittschuh laufen.«

      »Es wäre mir ein Vergnügen.«

      Als er am nächsten Tag aufstand, ziemlich spät, war allerdings von Mutter und Tochter keine Spur zu sehen. Der Tag war frisch und sonnig, es herrschte strahlend blauer Himmel. Nach dem Frühstück, das er allein einnahm, ging er mit seinem Kaffee in den Wintergarten. Er hatte sich vorgestellt, es wäre ein angenehmes Plätzchen, um die Zeitungen zu lesen, doch die Luft war feucht und drückend, und die stechende Sonne verursachte ihm Kopfschmerzen. Erst als er aufstand, um zu gehen, entdeckte er durch einen zufälligen Blick das Mädchen, abgewandt von ihm und halb verdeckt zwischen den dicht wuchernden Pflanzen. Sie saß zusammengekauert auf einem Korbstuhl, ihr dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie hatte die Beine zu einer Art Staffelei angezogen, auf der ein Skizzenbuch lag. Völlig reglos verharrte sie in dieser Position, der Bleistift schwebte über dem Papier, der Blick war auf etwas gerichtet, das Julius nicht sehen konnte. Er hielt den Atem an, ebenso reglos wie sie.

      Auf einmal legte sie entschlossen los, ohne auf das Papier zu sehen. Ihr Stift bewegte sich rasch, mit sicherem Strich, und Julius ertappte sich dabei, dass er sich schier auf die Zehenspitzen stellte und den Hals reckte, um ihr Werk begutachten zu können, als sie, so unvermittelt, wie sie angefangen hatte, wieder aufhörte. Finster starrte sie auf das Skizzenbuch und warf es mit einem Wutschrei auf den Boden, wo es mit der Vorderseite nach unten landete, die Seiten abgeknickt. Sie stieß es mit dem Fuß beiseite, ließ es über die Fliesen schlittern und schleuderte den Bleistift hinterher. Dann schob sie sich ein Kissen unter den Hals, rollte sich auf dem Stuhl zusammen, die Beine angezogen, sodass ihre bloßen Füße auf der Armlehne ruhten, gähnte herzhaft und mit weit geöffnetem Mund wie eine Katze und schloss die Augen. Im nächsten Moment war sie fest eingeschlafen.

      Was für eine Einlage, dachte Julius. Kein Wunder, dass ihre Mutter sie als Prüfung empfindet. Als er sich umdrehte, um zu gehen, stieß er aus Versehen einen schmiedeeisernen Blumenständer um, sodass der Topf krachend auf den Boden fiel. Mit einem panischen Aufschrei fuhr das Mädchen hoch.

      »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte Julius. »Ich habe Sie nicht bemerkt.«

      Das Mädchen zuckte die Achseln und streckte sich verschlafen. Ihre Fingernägel waren abgekaut und schmutzig, fast so schmutzig wie ihre Fußsohlen. »Nein, ähm, ich habe mich versteckt.«

      »Verstehe.«

      »Wenn meine Mutter mich findet, zwingt sie mich, mit ihr einen Spaziergang zu machen.«

      »Mögen Sie keine Spaziergänge?«

      »Nicht mit meiner Mutter. Man kann sich nur eine begrenzte Anzahl von Moralpredigten anhören, bevor man jemandem die Augen auskratzt.«

      Julius zog eine Augenbraue hoch. »Ah. Dann müssen Sie Fräulein Eberhardt sein.«

      »Mein Ruf eilt mir voraus.«

      »Ich habe gestern beim Abendessen neben Ihrer Mutter gesessen.«

      »Phantastisch. Dann wissen Sie ja bereits, was für eine Enttäuschung ich bin.«

      »Im Gegenteil«, widersprach er. Als das Mädchen eine Grimasse zog und verächtlich die Luft durch die geschlossenen Lippen ausblies, empfand er Mitgefühl für ihre mustergültige, entnervte Mutter. »Aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Guten Tag, mein Fräulein. Und noch viel Glück beim Verstecken.«

      »Wohl kaum. Sie sind Herr Köhler-Schultz, nicht wahr?«

      »Das ist richtig.«

      »Sie haben Die Genese der modernen Kunst geschrieben.«

      »Das stimmt«, sagte er erfreut. Manchmal fragte er sich, ob der Erfolg seines Vincent jedes andere Wort, das er jemals zu Papier gebracht hatte, aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt hatte. »Und ich arbeite immer noch daran, Gott steh mir bei. Nächstes Jahr kommt eine Neuauflage heraus.«

      »Dann haben sich Ihre Ansichten inzwischen geändert?«

      »Nicht unbedingt. Aber die Welt dreht sich weiter und wir mit ihr, ob wir wollen oder nicht. Aus einer anderen Perspektive entdeckt man an den Dingen oft ganz neue Seiten.«

      »Erzählen Sie das mal meiner Mutter«, entgegnete sie, den Kopf zur Seite geneigt, und er musste an Renoirs Porträt der Schauspielerin Jeanne Samary denken, mit ihren dunklen Augen und geröteten Wangen, dem leuchtenden Cremeton ihrer Haut. Samarys Vater, ein Cellist,


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