Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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zog eine Grimasse. Sie blickte kurz auf das Bild und sofort wieder weg. »Ja«, bestätigte sie. »Das ist er.«

      Böhm arbeitete seine Fragen ab. Während sie antwortete, färbte sich ihr Hals erst rosa, dann tiefrot. Als Böhm fertig war, lächelte er sie an.

      »Sie waren uns eine große Hilfe, danke. Haben Sie noch etwas hinzuzufügen, etwas, was wir vielleicht vergessen haben?«

      Die Haushälterin zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber da war ein braunes Muttermal, ein dunkelbraunes, auf seinem … seinem …« Sie drückte den Daumen auf ihren rechten Oberschenkel.

      »Ein Muttermal? Sind Sie sicher?«

      Frau Lang nickte, und Böhm machte sich lächelnd eine Notiz. »Danke, Frau Lang. Sie haben uns sehr geholfen.«

      »Allerdings, wenn ich darüber nachdenke«, sagte sie, plötzlich doch unsicher, »kann es auch das andere Bein gewesen sein.«

      »Ich glaube, das wäre dann alles, nicht wahr, Herr Böhm?«, schaltete sich Julius schnell ein. »Frau Lang, bleiben Sie bitte hier. Ich bringe Herrn Böhm hinaus.«

      In der Eingangshalle schüttelte er Böhm die Hand. »Sie werden … also … es tut mir leid, dass Frau Lang so durcheinander war. Dieser Baeck war eben, ähm, nicht der Erste.«

      Er wandte betreten den Blick ab. Frau Lang im Arbeitszimmer saß immer noch auf ihrem Stuhl, in der Hand ein zerknülltes Taschentuch.

      »Es tut mir leid«, sagte sie, »das mit dem Muttermal.«

      »Schon gut, das ist nicht schlimm, ich habe es Herrn Böhm erklärt. Aber wir müssen vorsichtig sein. Vergessen Sie nicht, es geht um einen Mann. Den Mann auf dem Foto. Keinen anderen.«

      Frau Lang starrte wortlos auf ihren Schoß.

      »Sie sind eine gute Frau, Frau Lang, eine gute Christin. Ich würde niemals von Ihnen verlangen zu lügen. Herr Baeck hat eine Erklärung unterzeichnet, in der er seine Beteiligung zugibt. Wir brauchen seine Aussage nur noch zu bestätigen. Der Rest geht keinen etwas an. Wir müssen doch auch an Luisas Eltern denken, an den kleinen Konstantin. Sie würden einen möglichen Skandal nicht verkraften. Fassen wir uns ein Herz und lassen Gnade walten, wenn schon nicht um Luisas willen, dann um ihretwillen.«

      Am Tag vor dem Gerichtstermin bekam Julius einen Umschlag mit maschinengeschriebener Adresse und Münchner Poststempel zugeschickt. Darin befand sich nur ein Foto von Konstantin an einem See, ohne Begleitbrief. Konstantin konnte also schon allein stehen. Er hatte den Babyspeck abgelegt, wirkte kantiger, sein seidiges Babyhaar war nun dicht und lockig. Als Julius den Jungen betrachtete, zu dem sein Baby geworden war, sah er einen Fremden vor sich, der ihm noch fremder geworden war, und in ihm tat sich ein Abgrund der Einsamkeit auf, so tief und so abrupt, dass ihm schwindlig wurde. Er schloss die Augen, und aus seinem Innern schien Luisas Stimme zu ihm zu sprechen.

      Bei einem blöden Gemälde oder einer Steintafel öffnest du dich, lässt dir davon das Herz brechen, aber bei einem echten Menschen, einem lebenden, atmenden Wesen mit all seinen Ängsten und Schwächen und Fehlern nimmst du Reißaus, fühlst dich abgestoßen. Nach Konstantins Geburt waren sie beide über die Heftigkeit ihrer Gefühle für ihn erschrocken. Julius hatte sie mit dem Kind beobachtet, und trotz alledem empfand er ehrfürchtige Bewunderung und auch so etwas wie Sehnsucht. Er konnte nicht ermessen, was es mit jemandem machte, so sehr geliebt zu werden.

      Minutenlang versank er im Anblick des Fotos. Sein Kaffee wurde kalt. Als Frau Lang zum Abräumen des Frühstücks hereinkam, ging er nach oben. Die Arche Noah stand immer noch auf dem Tisch im Kinderzimmer. Julius strich über das glänzende Papier, dann zog er daran, riss das Paket auf. Die bunt lackierte Arche ließ sich auf einer Seite öffnen, sodass die Tierpaare darin zum Vorschein kamen. Er kniete sich nieder und kippte sie auf den Boden. Wegen des dicken Teppichs standen die Tiere wackelig, trotzdem stellte er sie in einer langen Reihe auf, angefangen bei den kleinsten, von den bunt gefiederten Vögeln bis zu den Elefanten und den Giraffen mit ihren langen Hälsen. Als die Tiere aufgereiht waren, platzierte er Noah und seine Frau nebeneinander am oberen Ende des Landungsstegs. Noah lächelte breit in seinen Bart hinein. Er wirkte nicht wie jemand, der sich auf eine Katastrophe vorbereitete. Unter dem roten Kopftuch seiner Frau lugten kugelrunde, tiefblaue Augen hervor.

      Vom langen Knien schliefen Julius die Beine ein, und seine Hüfte schmerzte unerträglich. Humpelnd hob er das Geschenkpapier auf und knüllte es zu einer Kugel zusammen. Die Tiere ließ er stehen, wo sie waren. Dort warteten sie geduldig, jeweils zwei an der Zahl.

      Am Abend kam Matthias unangekündigt vorbei. Julius erwog halb, ihn wegzuschicken, ihm war nicht nach Gesellschaft zumute, doch zu seiner eigenen Überraschung tat ihm die Ablenkung dann doch gut. Sie sprachen nicht über die Scheidung. Julius hatte Matthias gegenüber nichts von dem Gerichtstermin erwähnt. Er hatte keine Lust auf Fragen, die er nicht beantworten wollte. Sie kamen auf die Gemälde zu sprechen, die das Kölner Wallraf-Richartz-Museum kürzlich angekauft hatte. Es hatte sich herumgesprochen, dass der neue Direktor für moderne Kunst auf Einkaufstour gewesen war, der Mann verstand sich meisterhaft auf Selbstvermarktung und wusste genau, wie er das Interesse der Zeitungen wecken konnte. Besonders ein Gemälde, teilte er den Reportern mit, werde für Furore sorgen, allerdings müssten sie bis zur feierlichen Enthüllung in Anwesenheit der deutschen Prominenz warten, um herauszufinden, um welches es sich handelte. Gerüchten zufolge hatte er bei van Goghs Sonnenblumen die National Gallery in London aus dem Rennen geschlagen.

      Matthias hatte eines der Sonnenblumen-Bilder nach dem Krieg in München gesehen. Er hatte nicht gewusst, dass van Gogh die Bilder eigentlich als Teil eines Triptychons geplant hatte; zwei Sonnenblumenbilder, eines auf gelbem, das andere auf türkisfarbenem Grund, sollten ein Porträt von Augustine Roulin an der Wiege einrahmen. Madame Roulin, die Frau des mit ihm befreundeten Postmeisters, hatte ihn während einer Krankheit gepflegt.

      »Er sah die Sonnenblumen als Lampen«, erklärte Julius. »Als Kandelaber, die seine weltliche Madonna anstrahlten. Es war außergewöhnlich, in diesen wenigen Wochen in Arles wurde er von einer Art Zauber erfasst, sein Pinsel musste die Leinwand nur berühren und sie erwachte zum Leben. Zwei vollständige Triptychen in wenigen Wochen, vielleicht auch mehr. Stell dir nur die leuchtenden Bilder auf den weiß getünchten Wänden im gelben Haus vor.«

      Matthias lächelte. »Mir gehören die Sonnenblumen. Hat er das nicht an Theo geschrieben?«

      »Und sie gehörten ihm auch und werden ihm immer gehören, auch wenn dieser schleimige Mistkerl Gauguin noch so sehr das Gegenteil behauptet. Kennst du die Geschichte nicht? Gauguin schrieb später, Vincent habe die Bilder nur auf seine Anregung hin gemalt, es sei Gauguins Idee gewesen, ›Sonnenblumen über Sonnenblumen im vollen Sonnenschein‹ zu malen. Da war Gauguin natürlich schon verarmt und lag im Sterben und hatte Angst, in Vergessenheit zu geraten. Besser, für die Meisterwerke von jemand anderem gewürdigt zu werden, als überhaupt nicht.«

      »Vincent hat viele, viele schlechte Bilder gemalt, aber seine großen Werke lassen einen verzagen«, sagte Julius später. Inzwischen war er betrunken, die Worte kamen lallend und schwer aus seinem Mund. »Ja, man sieht die Qualen, aber irgendwie liegt in ihnen keine Ernüchterung oder Bitterkeit. Da ist nur der Pinsel, der immer und immer wieder in sein pochendes, zerbrochenes Herz taucht.«

      »Was meinst du mit schlechten Bildern?«, wollte Matthias wissen.

      »Vincent war Autodidakt, er war ungeduldig und verehrte die falschen Künstler. Viele seiner frühen Werke sind unbeholfen. Schon damals jedoch gab er sich voll und ganz dem Malen hin, mit jeder Faser seiner selbst.«

      Und noch später, bei einer Flasche Cognac in seinem Arbeitszimmer: »Hier hat er mal gehangen, der van Gogh, meine Frau hat ihn gestohlen. Sie hat ihn mitgenommen, als sie mich verließ.«

      »So sehr hat sie das Bild geliebt?«

      »Sie hat es gehasst, und trotzdem hat sie es mitgenommen. Als Pfand. Sie wollte sichergehen, dass ich mich ihr gegenüber großzügig zeige.«

      »Dazu hätte sie das Bild nicht mitnehmen müssen.«

      Julius


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