Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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sondern bei Gericht eine Gegenklage eingereicht, mit Julius als Beklagtem.

      »Das können sie doch überhaupt nicht«, schimpfte Julius erbittert. »Unsittliches Verhalten, meine Güte. Was soll das überhaupt bedeuten?«

      »Das werden wir erst herausfinden, wenn wir die Klageschrift gesehen haben. Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass sie nur bluffen, das Verfahren hinauszögern wollen, um Sie zum Verhandeln zu zwingen. Es tut mir leid, Sie das fragen zu müssen, aber könnte es sein, dass Ihre Frau vielleicht doch etwas gegen Sie in der Hand hat?«

      Julius verdrängte den Gedanken an Harald Baeck und ließ sich ganz von dem bitteren Zorn erfüllen, der in ihm aufstieg. »Sie wissen, was sie hat. Mein Kind und mein Bild.«

      An jenem Abend kam Matthias nicht in die Meierstraße. Julius hielt es nicht hinter seinem Schreibtisch aus, die leere Wand starrte ihn vorwurfsvoll an. Er nahm das dünne Bündel mit Luisas Briefen, das er nie hatte wegwerfen können, und ließ einen Brief nach dem anderen ins Feuer fallen, aber es half nichts. In den Flammen sah er Matthias vor sich, seine verletzte Miene, als er aus dem Arbeitszimmer gestürzt war. Auch was Matthias’ Bruder gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn, seine höhnische Verachtung. Sie sind wirklich ein arrogantes Arschloch. Unsittliches Verhalten, dachte er, und sein Magen verkrampfte sich zu einem Knoten aus Unbehagen, Wut und Schuld.

      IX

      Es war Geisheim von der Tribüne, der darauf bestand, dass Julius nach Köln fuhr. Der Name Köhler-Schultz werde in einem Atemzug mit dem van Goghs genannt, sagte er und ignorierte Julius’ Einwände. Falls sich das Wallraf-Richartz-Museum die Sonnenblumen tatsächlich habe sichern können, wie alle Informanten der Tribüne behaupteten, wollte Geisheim, dass Julius als Erster die Nachricht verkündete.

      »Geben Sie Ihren Bericht telefonisch durch«, rief er ihm zu, bereits den halben Flur entfernt auf dem Weg zur nächsten Sitzung. »Kommt nicht oft vor, dass Kunst Schlagzeilen macht. Wir müssen die Ersten sein.«

      Draußen vor der Zeitungsredaktion schloss sich der graue Himmel über der Stadt wie ein Augenlid. Es war bitterkalt. Der Berliner Winter, provoziert von den ersten Regungen des Frühlings, schlug zurück. Eigentlich hatte Julius vorgehabt, nach Hause zu gehen. Stattdessen marschierte er mit hochgezogenen Schultern ostwärts die Leipziger Straße entlang. Auf der Grünstraßenbrücke blieb er stehen, sah auf seinen dunklen Schatten im tiefschwarzen Wasser hinab, dann hinüber zum zugenagelten Restaurant Ecke Wall- und Neue Grünstraße. Der Gedanke, hier zufällig auf Matthias zu treffen, war mindestens ebenso unangenehm wie verlockend, und so blieb er müßig auf der Brücke stehen, halb hoffend, halb bangend, ihn irgendwo zu entdecken. Die Eiseskälte des Bodens kroch langsam durch seine Schuhsohlen.

      Ein scharfer Wind fegte zwischen den Gebäuden hindurch und fuhr ihm in den Mantel. Julius legte seine Hände an den Mund und spürte seinen warmen Atem durch das Leder der Handschuhe hindurch. Er dachte an Konstantin in München, wie er die Arche Noah öffnen würde. Er wäre gern dabei gewesen. Der eisige Wind trieb ihm Tränen in die Augen, und seine Nase begann zu laufen. Als er das Taschentuch aus seinem Mantel zog, fiel ein gefalteter Zettel auf den Boden.

      Steif beugte er sich hinunter, um ihn aufzuheben. Es war eine Tuschzeichnung, das Papier an einer Seite unregelmäßig gezackt, wo man es aus einem Skizzenbuch gerissen hatte. Wie das Bild in einem Traum war es gleichzeitig sehr vertraut und verstörend falsch, van Goghs Selbstbildnis mit verbundenem Ohr, nur dass es nicht Vincents Gesicht war. Stattdessen blickte eine junge Frau unter Vincents Pelzmütze hervor, die Lippen geschürzt. Sie erinnerte Julius an jemand, auch wenn er das Gesicht gerade niemandem zuordnen konnte. Verwundert betrachtete er die Zeichnung und wühlte in seinem Gedächtnis.

      Da fiel es ihm wieder ein. Fräulein Eberhardt, Tochter der Schiller-Witwe, die Nervensäge mit den abgekauten Fingernägeln. Er erinnerte sich an ihr bleiches Gesicht in der hereinbrechenden Dunkelheit vor dem Haus am Würmsee, an die Rundung ihrer Brüste unter dem schwarzen Pullover. Unter dem Bild in Großbuchstaben der Titel: EIN MOMENT DES WAHNSINNS. Die Zeichnung war eilig hingeworfen, aber irgendwie hatte sie den Geist des van Gogh’schen Originals eingefangen, nicht nur seinen Stil, sondern seine emotionale Verlorenheit, seine trostlose Hinnahme der Schuld. Auf die Wand hinter ihrem Kopf, dort, wo van Gogh in seinem Porträt einen Kunstdruck des Fudschijama wie ein verlorenes Paradies platziert hatte, hatte Fräulein Eberhardt tropisches Blattwerk um einen kleinen Steinbrunnen herum gezeichnet, im Hintergrund schneebedeckte Berge: der Wintergarten von Otto Metz.

      An der rechten unteren Ecke des Papiers war ein mit Bleistift gezeichneter Pfeil zu sehen. Julius drehte das Blatt um. Unter ihrer Schweizer Adresse hatte Fräulein Eberhardt eine Notiz gekritzelt.

      Tut mir leid. Manchmal bin ich unausstehlich. Ich wünschte, ich wäre es nicht, aber offenbar kann ich nichts dagegen tun.

      Schreiben Sie mir bitte. Nur so weiß ich, dass Sie mir verzeihen. Ich schüttle Ihnen die Hand, EE

      Ich schüttle deine Hand, Vincents typischer Abschiedsgruß in den Briefen an seinen Bruder Theo. Julius’ Sehnsucht nach dem Selbstbildnis wurde plötzlich so stark, dass sich in seinem Inneren etwas zusammenzog. Er beugte sich über das Brückengeländer, das Blatt zitterte in seiner Hand. In der Nervenheilanstalt von Saint-Rémy hatten die Ärzte Vincent verboten zu malen. Sie sagten, das Malen habe die Anfälle hervorgerufen, aber für Vincent war das Nichtmalen noch schlimmer, eine Art Folter. Julius wusste nicht, ob die Mädchen in Fräulein Eberhardts Internat Unterricht im Zeichnen und Malen erhielten oder ob man ihnen nur beibrachte, zu lächeln und zu nicken und Schiller-Lieder zu singen, mit ordentlich gefalteten Händen im Schoß. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Fräulein Eberhardt Blumen arrangierte und Speisenfolgen besprach, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen dachte er an Vincent, der, eingesperrt in seinem Zimmer ohne Pinsel und Leinwände, seine Farben mit den Fingern von der Palette gekratzt und aufgegessen hatte.

      Es wurde dunkel. Die Straßenlaternen gingen an. Am gegenüberliegenden Ufer blieb ein untersetzter Mann stehen und richtete den Blick über das dunkle Wasser hinweg auf Julius. Mit klopfendem Herzen eilte Julius nach Hause.

      Noch am gleichen Abend schrieb er an Fräulein Eberhardt. Eine Entschuldigung wie diese verdiente Anerkennung, selbst wenn die Geschehnisse schon Monate zurücklagen. Er fragte sich, ob sie wohl all die Zeit über auf seine Absolution gewartet hatte, ob ihre Hoffnung jeden Tag aufs Neue mit der Morgenpost aufgeflammt war wie ein Streichholz. Er hoffte es sehr. Gewissensbisse waren nichts wert, wenn sie nicht wehtaten.

      In Berlin konnte man durchaus vergessen, dass manche Teile Deutschlands noch von den Feinden besetzt waren. In Versailles hatten die Franzosen zum Schutz vor deutschen Aggressionen auf einer Pufferzone bestanden, auf einem entmilitarisierten Rheinland, woraufhin die Alliierten das Territorium zerstückelten wie gierige Jungen den Kuchen auf einer Kaffeetafel. Einige Kilometer außerhalb von Köln waren britische Soldaten in Julius’ Zug gestiegen und hatten Waggon für Waggon die Ausweispapiere der Passagiere kontrolliert. Die Brücken wurden durch militärische Kontrollpunkte gesichert, durch die Straßen preschten Armeelaster. Am überlaufenen Einlass des Museums mischten sich britische Offiziere unter die hohen Tiere der Stadt, die Bankiers und liebedienerischen Künstler, die in Köln die Crème de la Crème bildeten.

      Julius widerte diese aufgesetzte Normalität an. Es war bekannt, dass weiter im Süden, in der Pfalz, die französische Besatzungsarmee die Separatisten ermutigte und aktiv bei der Schaffung eines unabhängigen Rheinstaates unterstützte. Auch fünf Jahre nach dem Waffenstillstand war der Krieg noch nicht vorüber, noch lange nicht. Nachdem Clemenceau und Konsorten Deutschland erniedrigt und das Land in den Bankrott gezwungen hatten, versuchten sie nun, es in Stücke zu brechen.

      Der neue Direktor des Museums hatte seine Hausaufgaben gemacht. Bereits vor Beginn der Reden schlich er sich zu Julius und schlug ihm vor, sich heimlich noch vor den anderen Gästen die Ausstellung anzusehen. Ein Kritiker seines Formats, flüsterte er, sollte sich nicht um einen Platz in der ersten Reihe balgen müssen. Er führte Julius direkt in den Hauptsaal. Am anderen Ende des Raums reichte ein schwerer Samtvorhang von etwa vier Meter Breite von der Decke bis zum Boden und verhüllte fast die gesamte Wand, wie in einem Theater,


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