Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

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Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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sagte Rachmann leise. »Vor fünf Jahren ist schon einmal etwas zu Ende gegangen.«

      Julius nickte. Er hatte einen Kloß im Hals. »Ich weiß.«

      »Seltsam, ich habe gerade an Sie gedacht. Aber ich denke immer an Sie, wenn ich hier langgehe.«

      Keiner von ihnen wollte zurück an die Arbeit. Sie spazierten am Kanal entlang zurück zur Meierstraße.

      »Ist das jetzt das Ende?«, fragte Rachmann. »Wird es Bestand haben?«

      »Wer weiß? Wir können nur hoffen.« Böhm zufolge waren die neu ausgegebenen Geldscheine wertbeständig. Als ob irgendjemand in Deutschland noch an so etwas glaubte, und mit einem Mal war Julius nach Lachen zumute. »Hoffnung bedeutet, auch dann noch zu hoffen, wenn alles hoffnungslos scheint. Wer hat das noch mal gesagt? Jedenfalls bestimmt kein Deutscher.«

      Rachmann grinste, und das merkwürdige Hochgefühl, das Julius erfasst hatte, verstärkte sich. »Ich finde, wir sollten feiern«, sagte er. »Bevor der Wahnsinn wieder anfängt.«

      Zu Hause ließ er sich von Frau Lang eine Flasche von seinem besten Billecart-Salmon bringen. Seit Luisa fort war, hatte man in der Meierstraße am Vormittag keinen Champagner mehr getrunken. Schweigend stellte die Haushälterin den Sektkübel und die Gläser ab und stolzierte aus dem Zimmer. Julius brach in Lachen aus.

      »Das ist alles Ihre Schuld«, sagte er zu Rachmann. »Sie üben einen schlechten Einfluss aus. In München war Frau Lang eine Stütze des Abstinenzvereins.«

      »Und hier in Berlin?«

      »Gibt es so etwas überhaupt in Berlin?« Immer noch lachend schälte Julius die Folie von der Flasche und drehte den Korken heraus. Er schenkte zwei Gläser ein und reichte eines davon Rachmann. »Zum Wohl. Auf das Wertbeständige, was immer das sein mag.«

      »Auf das Wertbeständige. Und auf Sie, Herr Köhler-Schultz, weil Sie daran glauben.«

      »Bitte, nennen Sie mich doch Julius«, entfuhr es Julius zu seiner eigenen Überraschung. »Und wir können uns auch gern duzen.«

      Rachmann lächelte. »Matthias«, sagte er. Er beugte sich vor und stieß mit Julius an. Matthias, dachte Julius, während er trank, der Jünger, der auserwählt wurde, den Verräter Judas Iskariot zu ersetzen. Der Name bedeutet Geschenk Gottes.

      »Obwohl ich sagen muss«, fügte Matthias scherzend hinzu, »dass ich wohl das bessere Los gezogen habe. Herr Köhler-Schultz ist schon ein ziemliches Wortungetüm.«

      Julius lächelte. »Ich fürchte, daran bin ich selbst schuld. Mein Geburtsname lautet Köhler. Als ich zur Universität ging, nahm ich zum Gedenken an meine Mutter das Schultz mit dazu. Mein Vater empfand es als Kränkung, was, wie ich zu meiner Beschämung zugeben muss, wohl auch Zweck der Übung war.«

      »Warst du noch jung, als deine Mutter starb?«

      »So jung man nur sein kann. Sie starb bei meiner Geburt.«

      »Das tut mir leid. Du fühlst dich bestimmt dafür verantwortlich.«

      Julius schwieg. Wie kam es, fragte er sich, dass der Sohn eines Schmieds aus Düsseldorf in den tiefsten Winkel seines Herzens blicken konnte?

      »Die Frau meines älteren Bruders starb an Kindbettfieber«, erklärte Matthias. »Es war während der Blockade, als es weder Lebensmittel noch Medikamente gab. Das Kind überlebte. Obwohl Erich seinen Sohn sehr liebt, gibt er ihm auch die Schuld. Und kann ihm selbst nach all den Jahren nicht ganz verzeihen.«

      Julius dachte an seinen eigenen Vater, einen Industriellen, für den die Welt nur aus Bilanzen bestand, aus Zahlungseingängen und Verbindlichkeiten. Wäre es nach ihm gegangen, wäre Julius Maschinenbauingenieur geworden. »Ich nehme an, es wird immer etwas geben, was unsere Eltern uns nicht verzeihen können. Und was wir einmal unseren Kindern nicht verzeihen werden.«

      »Leider habe ich keine Kinder, denen ich etwas verzeihen könnte«, entgegnete Matthias. »Du schon, glaube ich?«

      »Ja. Einen Sohn.«

      »Wie heißt er?«

      »Konstantin. Er heißt Konstantin.«

      »Und gibt es etwas, was du Konstantin nicht verzeihen kannst?«

      Julius dachte an das Foto auf seinem Frisiertisch, an die knubbeligen Hände und die ängstliche Miene seines Sohns. »Bis jetzt nicht. Aber er ist ja auch noch nicht mal ein Jahr alt. Das hat noch reichlich Zeit.«

      Matthias lächelte matt und starrte in sein Glas. »Vielleicht sollten wir uns gar nicht wünschen, dass unsere Eltern uns verzeihen. Vielleicht bringt uns gerade das Streben nach ihrer Vergebung dazu, ein gutes Leben zu führen.« Er zögerte. »Ich habe nicht gekämpft. Im Krieg. Ich wurde 1916 eingezogen, kam zu meinem Regiment, aber ich hatte … ich bin zusammengebrochen. Sie nannten es Granatenschock. Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Es gab eine Offensive, und dann war ich im Lazarett. Mein Vater hält mich für einen Feigling. Er sagt es nicht laut, aber ich weiß es. Ich habe ihn enttäuscht. Er denkt, ich habe unser Land im Stich gelassen. Das trage ich immer mit mir herum. Es ist ständig da, treibt mich an. Das Gefühl, dass ich es vielleicht wiedergutmachen kann, wenn ich mich nur genug anstrenge, wenn ich ihn stolz auf mich mache. Dass er mir dann verzeihen wird.«

      »Suchst du die Vergebung deines Vaters oder deine eigene?«

      Matthias schwieg. »Die meines Vaters, glaube ich«, antwortete er schließlich. »Obwohl ich weder auf das eine noch auf das andere große Hoffnung setze.«

      »Du warst krank. Wie viele gute Männer. Es war nicht deine Schuld.«

      »Geboren zu werden war auch nicht deine. Das verhindert bei uns beiden nicht, dass wir uns schuldig fühlen.«

      Als Matthias schließlich ging, war es schon dunkel und sehr kalt. Julius kehrte nicht in sein Arbeitszimmer zurück. Er stand in der leeren Eingangshalle unter dem Vuillard, und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken, bevor sie sich wie frischer Schnee legten.

      VI

      Die neue Mark behielt ihren Wert. Die Straßenlaternen leuchteten wieder, und auf einmal war alles erhältlich, nicht nur Eier und Brot und Kartoffeln, sondern auch Pfefferkuchen, Glühwein und Datteln, kandierte Früchte und ganze Stapel prächtiger Orangen mit glänzenden grünen Blättern. Bei Wertheim standen riesige Weihnachtsbäume mit Hunderten blinkenden Lichtern im Schaufenster, unter ihren Zweigen lagen Berge von bunt eingepackten Paketen.

      Julius hatte seit Jahren keinen Fuß in das große Warenhaus gesetzt. Im Lichthof mit den monumentalen Säulen und Wandmalereien standen Leuchtvitrinen, die Hüte und Musikinstrumente und Porzellanfigurinen präsentierten. Riesige Nachbildungen griechischer Götterstatuen ragten in angestrahlten Nischen entlang der Wände auf – Bacchus grinste anzüglich über einer Weintraube, eine spärlich bekleidete Artemis spannte einen Pfeil in den Bogen, als wollte sie beides zum Kauf anbieten. Zwischen der ausladenden Doppeltreppe, die zu den Obergeschossen führte, hing wie ein riesiges Altarstück eine kolossale goldene Uhr in Form einer Sonne und zählte die Minuten bis zum Geschäftsschluss.

      Er nahm einen der dreiundachtzig Fahrstühle und fuhr in die Spielzeugabteilung. Die Regale waren dicht gefüllt, die schiere Auswahl an Waren überwältigte ihn. Er hatte keine Vorstellung davon, was einem Kind in Konstantins Alter gefallen mochte. Zu seiner Erleichterung kam ihm eine junge Frau in Verkäuferinnenkostüm zu Hilfe und schlug ihm eine ziemlich edel aufgemachte Arche Noah vor. Er wartete, während sie das Geschenk verpackte. Um den Schriftzug des Warenhauses hinter ihr an der Wand rankten sich Blumen. Julius musste an das Gemälde mit den Mandelblüten denken, das van Gogh für seinen neugeborenen Neffen gemalt hatte. Damals war Vincent schon sehr krank. Er schrieb Theo, der Junge stehe für all die Jahre, die ihnen verwehrt blieben, er würde wachsen und gedeihen und all das vollbringen, was die schwachen und närrischen Erwachsenen nicht zu Ende geführt hätten. Zwischen seinen Anfällen arbeitete Vincent wie im Rausch, ein Bild pro Tag, doch er schrieb an Johanna, es sei besser, Kinder großzuziehen, als Bilder zu malen. Dass sie den Jungen Vincent tauften, missfiel ihm. Das Kind sollte nicht


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