Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter. Gregor Kastner
Читать онлайн книгу.ein Kleintransporter vor. Der Kraftfahrer stieg aus, öffnete die hintere Tür seines Fahrzeuges, nahm etliche Bündel mit Zeitschriften heraus, brachte sie in die Vorhalle und legte sie vor dem Zeitschriftenladen ab. Dort begegnete er einem Eisenbahner, der vermutlich Feierabend hatte und wünschte ihm einen „Guten Morgen“. Der Eisenbahner, der nicht damit gerechnet hatte, um diese Uhrzeit angesprochen zu werden, wünschte dem Fahrer ebenfalls einen „Guten Morgen“. Danach gingen beide ihren Weg, so als hätten sie sich nicht getroffen. Der Bahnsteig selbst war hell erleuchtet und ein Güterzug rollte heran. Als der Zug während der Durchfahrt auf Höhe des Bahnsteiges war, wurde es richtig laut und danach war alles wieder ruhig.
Genau in dem Moment näherten sich vom östlichen Ende des Bahnsteiges zwei dunkle Männergestalten. Als sie näher kamen, sah man, dass es Bundespolizisten waren. Die hatten es, dem Schritt nach zu urteilen, sehr eilig. Vermutlich hatten sie noch einen Anruf bekommen und mussten schleunigst los. Die zwei Polizisten gingen bis zum Ende des Bahnsteiges, schauten nach links und rechts und gingen in den Gleisbereich bis zu einer abgestellten Lok. Einer der beiden schnappte sich einen Fotoapparat, ging um die Lok und machte etliche Aufnahmen. Der zweite Beamte hatte ein Heft mit Kugelschreiber in der einen Hand und in der anderen Hand befand sich ein Zollstock. An der Lok wurden durch unbekannte Täter mehrere Graffiti aufgesprüht und sie sollten den Sachverhalt aufnehmen. Nachdem das Wichtigste aufgenommen war, wurde der Standort auch noch nach Farbspuren abgesucht. Denn die Beamten wollten wissen, ob die Lok hier im Bahnhof besprüht wurde oder ob das Graffiti schon älter ist. Da keine weiteren Farbspuren gefunden wurden und die Farbe komplett ausgehärtet war, ging man davon aus, dass der Tatort woanders lag. Das galt es nun zu ermitteln. Somit war der nächste Weg zum Weichenwärter, der eine gewisse Sicht zur abgestellten Lok hatte. Vielleicht hatte der ja was gesehen und konnte Hinweise geben. Wenn nicht, konnte er sich auf jeden Fall beim Fahrdienstleiter erkundigen, wo die Lok herkam. Danach wollten die zwei auf die Dienststelle zurück, einen „Dreizeiler“ in den Computer geben und Feierabend machen.
05:15 Uhr, vor der Dienststelle der Bundespolizei
Der Polizeiobermeister Erich Glaubmirnix fuhr wie immer mit seinem Auto nach Nordhausen zum Dienst und war auch wie immer, pünktlich angekommen. Nun stand er mit seinem Auto vor der Dienststelle, schaltete den Motor ab, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch knapp dreißig Minuten Zeit hatte. Nun konnte er sich ein wenig Zeit nehmen und das tat er auch. Immerhin hatte er eine Strecke von knapp über sechzig Kilometer hinter sich. Und wenn man diese Strecke jeden Tag zweimal fährt, schlaucht das auf Dauer. Das ließ sich er sich aber nicht anmerken. Das verbot ihm ganz einfach sein Ehrgefühl. Und da er immer pünktlich sein wollte, fuhr er immer bei Zeiten los. Die Zeiten hatte er sich am Anfang einmal ausgerechnet und seit der Zeit waren sie wie in Stein gemeißelt in seinem Kopf verankert. Im Allgemeinen braucht Erich für die Strecke, je nach Verkehrslage, auch dank der Autobahn, zwischen vierzig und fünfundvierzig Minuten. Heute brauchte er nur fünfunddreißig. Da gab es mal Zeiten, so hatte es ihm sein Kumpel Josef Löwinger, auch als Leo bekannt, erzählt, da waren diese Fahrzeiten ein Traum gewesen. Da brauchte man anderthalb Stunden und mehr für die gleiche Strecke. Zu der Zeit gab es noch keine Autobahn und der ganze Verkehr rollte über die Bundesstraße. Und jede Schranke, die sich auf der Strecke befand, war ausgerechnet dann geschlossen, wenn er mit seinem Auto angefahren kam. Und bei manchen Bahnübergängen musste man halbe Ewigkeiten ausharren bis der Zug endlich angefahren kam, am Bahnsteig anhielt, die Fahrgäste aus- und einstiegen und nachdem alle Türen wieder geschlossen waren, die Fahrt weiterging. Und erst wenn der Zug dann endlich über den Bahnübergang gefahren war, konnten die Schranken geöffnet werden. Und manchmal öffneten sich die Schranken, weil schon wieder ein Gegenzug unterwegs war, nicht. Dann wiederholte sich das Ritual. Nur dieses mal in der Gegenrichtung. Der Zug fuhr ein, hielt an, die Leute stiegen ein und aus … Und wenn der dann endlich abgefahren war, konnte es passieren, dass auf der erstgenannten Fahrtrichtung schon wieder ein Zug unterwegs war. Das war auch die Zeit, als ein großer Teil des Güterverkehrs noch auf den Schienen unterwegs war. Da waren zehn bis zwanzig Minuten Wartezeit keine Seltenheit. Und als Krönung fuhr sein Freund Leo noch mit dem Trabi. Das ist zwar schon lange her, aber Leo hat das sein Leben lang nicht vergessen. Es war für ihn halt eine verrückte Zeit.
Leider ist sein Freund schon im Ruhestand. Erich gönnte es ihm. Er hat viel in seinem Leben durchmachen müssen und dabei einen Großteil seiner Gesundheit geopfert, ohne je ein Dankeschön zu erhalten. Das alles ist nun Geschichte. Es gibt Tage, da vermisste er seinen Freund Leo.
Und bei der kurzen Fahrzeit, die Erich heute früh gebraucht hatte, freute er sich: „Na da bin ich ja wieder gut durchgekommen. Autobahn war leer, was will man mehr. Kein Stress am Morgen, also keine großen Sorgen.“ Bei dem letzten Gedanken huschte ihm ein leichtes Lächeln über die Lippen und der nächste Gedanke war: „Hoffentlich bleibt das auch so!“, und stieg aus.
Da wurde er von hinten angesprochen: „Morgen, Erich! Hast du Feierabend?“
Erich kannte die Stimme, drehte sich um und sagte: „Guten Morgen, Anika, auch wieder zum Dienst? Und ja, Feierabend habe ich auch. Aber erst heute Nachmittag.“
Anika lächelte und sagte: „Ich auch. Hab dich lange nicht gesehen. Warst du etwa krank?“
„Nein, meine Gutste, ich war immer im Dienst. Und mit deinem Spruch kann ich übrigens mithalten. Hab dich auch lange nicht gesehen.“
„Und? Gibt’s bei dir was Neues?“
„Nee, eigentlich nicht. Nur mein Sohn will nicht in die Schule. Du glaubst gar nicht, was ich deswegen schon alles durchgemacht habe. Seitdem der aus dem Kindergarten raus ist, fängt er an zu spinnen.“
„Anika, du sagst immer Kindergarten. Heißt das nicht richtig Kita?“ Kurz darauf bereute Erich seine Frage. Denn er bekam einen Vortrag: „Höre auf mit dem Wort: Kita oder Kindertagesstätte! Wenn ich das harte Wort höre, da geht mir schon wieder die Hutschnur hoch. Das ist ganz einfach nur Beamtendeutsch! Möchte mal wissen, wer das Wort erfunden hat. Der Fröbel, der den Kindergarten ins Leben gerufen hat, würde sich im Grabe nicht nur einmal umdrehen, wenn der das Wort hören könnte. Auf der ganzen Welt sagt man das schöne Wort: ‚Kindergarten‘. Selbst im fernen China wird es verwendet, und hier? Da wo es erfunden wurde? Sagt man Kita! Was soll der Scheiß? Wie soll ich dir das bloß auf die Schnelle erklären? Nimm mal das Wort Kindergarten. Was sagt dir das Wort? Überlege mal. Kinder im Garten. Im Garten fühlt man sich wohl und ist geborgen. Im Garten können glückliche Kinder spielen und in Liebe aufwachsen und da dürfen Kinder noch Kinder sein. Nun ja, genau das will das Wort Kindergarten ausdrücken: ‚Behütet sein und spielend aufwachsen!‘ Und was sagt das harte und lieblose Wort ‚Kita‘ oder ‚Kindertagesstätte‘? Das ist eine Stätte, wo die Kinder am Tag hingebracht oder abgestellt werden und Punkt. Obwohl ich die Arbeit der Kindergärtnerinnen achte und lobe. Ach so, nein, ich meine Erzieherinnen. Heute sind es Erzieherinnen. Sie machen trotzdem eine gute Arbeit. Das drückt aber der Name ‚Kita‘ so nicht aus! Weißt du eigentlich, dass die allererste Kindergärtnerin eine Nordhäuserin war?“
„Nee, das habe ich nicht gewusst. Echt? Wirklich eine Nordhäuserin?“
„Na, da will ich dich mal aufklären. Die allererste Kindergärtnerin auf der ganzen Welt hieß Ida Seele. Man nannte sie auch Fröbels Ida. Die wurde im Jahr 1825 hier in Nordhausen geboren, wurde vom Pädagogen Friedrich Fröbel in Blankenburg ausgebildet und dort begann sie auch mit ihrer Tätigkeit. Dann arbeitete und lehrte sie an verschiedenen Kindergärten und Schulen in Darmstadt, Landsberg an der Warthe und in Berlin. Hoffentlich habe ich keinen Ort vergessen. Danach kam sie nach Nordhausen zurück. Lebte und arbeitete hier bis zu ihrem Tod. Das war, glaube ich, im Jahr 1901. Ich muss mal wieder auf das Denkmal schauen. Ich fahre ja fast täglich dran vorbei. Fröbels Ida wurde auch hier in Nordhausen beigesetzt. Die würde sich übrigens auch im Grabe umdrehen, wenn sie das Wort ‚Kita‘ hören könnte. Ach, verdammt! Ich muss mich wieder abregen. Wo waren wir doch gleich wieder stehengeblieben?“
„Bei deinem Sohn. Der will nicht in die Schule.“
„Ach so, ja, sein bester Freund wurde ein Jahr zurückgestellt und deshalb will meiner auch im Kindergarten bleiben. Was hab ich da bloß mit dem Bengel falsch gemacht? Kannst du mir