Der Geheimbund der 45. Bernhard Wucherer

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Der Geheimbund der 45 - Bernhard Wucherer


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sollte, wird er – und bei Notwendigkeit die Menschen in seinem Umfeld – ohne Gnade getötet! Der uns selbst auferlegte Codex verpflichtet uns dazu, dafür zu sorgen, dass sich unser Wissen um die Anatomie von hier aus über die ganze zivilisierte Welt verteilt und die ›artes liberales‹ ebenfalls Verbreitung finden! Ich gebiete und prophezeie euch, dass jedes Mal mehr Menschen zur Sühne sterben werden, wenn das Amulett verschwindet und wieder auftaucht! Sollte uns das Amulett abhandenkommen, stirbt eine Person. Sollte es erneut verloren gehen, zwei weitere.«

      »… und letztlich so viele, bis die Fünfundvierzig erreicht ist«, unterbrach jemand wie aus dem Nichts heraus den Redner.

      Nachdem die Versammelten festgestellt hatten, dass einer aus der Sechsergruppe gesprochen hatte, ging ein ungläubiges Flüstern durch die Reihen.

      Anstatt den Zwischenruf einer Antwort zu würdigen, beendete der Großmeister das Thema mit den Worten: »Dieses Amulett darf uns allerhöchstens neunmal abhandenkommen! Ein zehntes Mal wird es nicht geben!« Seine Stimme zitterte. Dennoch fuhr er unbeirrt fort: »Es liegt also an den jeweiligen Großmeistern, auf das Amulett zu achten, und an seinen Mitbrüdern, ihn zu schützen und es wiederzubeschaffen, wenn es ihm abhandenkommen sollte!«

      Nach einer kurzen Besinnungspause kam er zum nächsten Punkt, wozu er sein Quadrat mit einem Schritt über die Kerzen wieder verließ, um zum Altar zu gehen. Dort hielt er für einen Moment seine ausgestreckten Arme mit den geöffneten Handflächen so darüber, wie es Priester beim Gebet tun. Dann zog er das Tuch weg und bat einen der beiden Männer, die im Quadrat mit der Zwei standen, zu sich, um ihm in feierlichem Tonfall zu sagen: »Hiermit übergebe ich dir das, auf was wir über zwei Jahre hinweg sehnlichst gewartet haben: das Gladius Dei! Endlich hat uns ein reisender Händler über gute Beziehungen zu anderen Kaufmännern, die mit dem Schiff in die fernsten Länder fahren, fünfundvierzig dieser edlen Schwerter mitgebracht! Dieses sogenannte ›Jiàn‹ ist ein zweischneidiges Schwert aus dem Land, aus dem unser Amulett stammt!« Während er dies sagte, strich er sanft über die elegante Lederscheide. Anschließend hob er die Waffe hoch und warnte seine Brüder: »… wie viele Schwerter unserer Kultur, verbindet das ›Jiàn‹ Eleganz mit tödlicher Gewalt! In China wird dieses Schwert vom Kaiser bis zum ehrbaren Handwerker hinunter geführt, es ist ein Zeichen für den Rang der gesamten stolzen chinesischen Gesellschaft, ein Zeichen der Stärke. Und Stärke ist Leben. Und Schwäche heißt Tod! Fortan soll euch dieses Schwert stärken und auch das äußere Zeichen für unsere Bruderschaft sein, das es ebenso zu schützen gilt wie das ›Magische Amulett‹!«

      Weil der Großmeister merkte, dass die Nummer zwei es nicht erwarten konnte, diese edle Waffe in die Hände zu bekommen, kam er zum fulminanten Ende seiner Ausführungen, indem er das Schwert mit gestrecktem Arm nach oben hielt und rief, so laut er konnte: »Dies ist Gladius Dei, das Schwert Gottes! … Es soll die Verbindung zu unserem Amulett sein! Achte gut darauf und gib es beizeiten an deinen Nachfolger weiter oder erkläre ihm ganz genau, wie er nach deinem Tod das Schwert in seine Hände bekommen kann!«

      Nachdem der soeben Beschenkte wieder in seinem Quadrat stand und Ruhe eingekehrt war, streckte der Großmeister ein zweites Schwert in die Höhe und rief: »Auch dies hier ist das Schwert Gottes! … Es soll unserem geheimen Bund den Namen geben: ›Gladius Dei‹!«

      Er hatte dies kaum ausgesprochen, als ihm auch schon ein vierundvierzigkehliges mehrfaches »Gladius Dei!« entgegenschallte.

      Danach trat einer nach dem anderen aus seinem »Magischen Quadrat« und nahm stolz seine Waffe in Empfang. Als derjenige an die Reihe kam, der den Großmeister kurz zuvor unterbrochen hatte, wurde er von ihm aufgefordert, das Schwert aus der Scheide zu ziehen und es ihm zu geben. Kaum dass dies geschehen war, stieß er es ihm, ohne zu zögern, mitten ins Herz. Nun wusste auch der Letzte unter ihnen, was es hieß, eines der fünfundvierzig Mitglieder des Geheimbundes »Gladius Dei« zu sein. Und er würde bald auch wissen, wie nah Gut und Böse beieinanderliegen konnten.

      Ein todbringendes Geschenk

      Altshausen und villa Ysinensi – Anno Domini 1041 bis 1042

      Die magische Zahl I

      Kapitel 1

      Ein Geräusch zerriss die Stille. Vielleicht ein Flügelschlagen. »Hörst du das auch?«, flüsterte Gerold Eberz, ein Ackerbauer und Sargmacher aus der kleinen Allgäuer Siedlung namens villa Ysinensi, an einem frühen Novembermorgen im Jahre des Herrn 1041 seinem Sohn Michael zu. Aber er bekam keine Antwort. Sein neunjähriger Spross saß ein ganzes Stück vom Vater entfernt auf dem Ast eines Baumes und konzentrierte sich auf das, was gleich direkt unter ihm geschehen würde. Denn während sein Vater am Ufer des kleinen Weihers im Norden ihrer beschaulichen Heimatsiedlung darauf wartete, dass ein Fisch anbiss, lauerte Michael darauf, dass ihm ein Kaninchen in die Drahtfalle ging, die sich jederzeit zusammenziehen konnte. Dabei musste er darauf achten, dass der gefrorene Ast sein Gewicht aushielt.

      Während der Vater mit zusammengekniffenen Augen das Dunkel dieses Wintermorgens zu teilen versuchte, zupfte er immer wieder leicht an der Angelschnur, die im klaren Wasser des Weihers hing. Obwohl die Temperaturen hier gerade im Winter streng sein konnten, fror die Aachquelle nie zu. Daran, dass hier jemals ein fließendes Gewässer mit einer Eisschicht bedeckt gewesen war, konnte sich der Vater nicht erinnern, auch in diesem Winter nicht, obwohl es so ausnehmend frostig war, dass die Bevölkerung fror wie selten zuvor. Das Fällen von Bäumen als Brennmaterial war den geplagten Untertanen des Grundherrn, Wolfrad II. Graf von Altshausen, strikt untersagt worden. Lediglich Bruchholz durften sie einsammeln. Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, eines Tages erwischt zu werden, hatte es die hungernde und verhärmte Bevölkerung über Generationen hinweg riskiert, die Wälder ihrer Herren zu freveln, das Wild daraus zu jagen und in den gräflichen Gewässern zu fischen.

      Was dies anbelangte, waren gerade die Menschen von villa Ysinensi im Laufe der Jahre einfallsreich geworden. Sie rotteten sich meist in den späten Herbsttagen zusammen, um in den Besitz von »Bruchholz« zu gelangen. Und dies spielte sich immer auf die gleiche Art ab: Während die Frauen von der Natur gegebenes Bruchholz und herumliegende Äste einsammelten, regelten die Männer den Rest. Ein paar von ihnen waren dafür zuständig, die anderen zu warnen, falls der gräfliche Forstverwalter mit seinen rauen Gehilfen auftauchen würde. Währenddessen schlugen die meisten von ihnen mit ihren Äxten die Stämme der sorgsam ausgewählten Bäume nur so weit an, dass die Zugkraft ihres einzigen Pferdes den Rest des Baumstamms knicken und zum Bersten bringen konnte. Die glatte Hälfte der Baumstümpfe bearbeiteten sie dann so, dass es aussah, als wären die Bäume vom letzten Sturm umgerissen worden. Danach etwas Walderde darübergestrichen und mit Glück ein bisschen Zeit bis zum nächsten Inspektionsrundgang des Forstverwalters gewonnen, so war der Waldfrevel bisher kaum einmal offenkundig geworden. Damit keiner den anderen beim Grafen anzeigen konnte, mussten sich sämtliche Männer der Siedlung daran beteiligen.

      »Irgendwann kriegen sie uns!«, hatte Gerold Eberz mehr als einmal gewarnt. Der trotz seines niederen Standes kluge Urenkel eines Ackerbauern, Enkel eines Ackerbauern und Sohn eines Ackerbauern hatte sich in Ravensburg zum Sargtischler ausbilden lassen, weswegen er sich zwar den Ärger seiner Eltern, aber auch den Respekt seiner Mitmenschen und sogar den der Obrigkeit verdient hatte. Denn außer ihm war noch keiner von ihnen aus villa Ysinensi hinausgekommen. Er war von allen Männern der Siedlung derjenige, der am meisten von Holz und dessen Verarbeitung verstand. Deswegen lag es auch Jahr für Jahr an ihm, die Baumstümpfe so zu präparieren, dass sie glaubwürdig danach aussahen, als hätte sie ein Sturm umgerissen und dementsprechend zersplittert. Der gräfliche Forstverwalter war allerdings nicht dumm, weswegen ständig die Gefahr drohte, ihm auf den Leim zu gehen. Dennoch war in all den Jahren fast nichts schiefgelaufen. Nur wenige der Männer waren von den Schergen des Grundbesitzers so hart bestraft worden, dass sie nicht hatten weiterarbeiten können.

      Aber Gerold Eberz war wohl bewusst, dass er und sein Sohn an diesem Wintermorgen etwas streng Verbotenes taten, das ihrer beider Leben kosten konnte. Deswegen war der äußerst wachsame Familienvater unruhig geworden. Ohne zu atmen, lauschte er ins morgendliche Halbdunkel hinein. Er konnte sich anstrengen, wie er mochte; das, was er zu hören glaubte, war nicht zu sehen. Und dies beunruhigte den abergläubischen Mann, der zusammen mit


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