Ostfriesenspieß. Wolfgang Santjer

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Ostfriesenspieß - Wolfgang Santjer


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entging ihre Reaktion nicht. Nun wollte er noch einen draufsetzen und schaltete die Lichtstrahler und ein spezielles Belüftungssystem an. Der Ventilator brummte leise.

      Der Bestatter konnte sich etwas Stolz in der Stimme nicht verkneifen. »Meine Herren, Sie sehen, hier ist alles vorhanden, was man für eine Außensektion benötigt. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie dieses neue Angebot einmal wahrnehmen würden. Sie können die Räume anmieten. Das Team der Rechtsmediziner könnte hier ohne Probleme arbeiten. Unnötige Transportwege könnten verkürzt werden.«

      »Das wäre für alle Beteiligten eine gute Sache«, erwiderte Jan Broning, »aber derzeit sollen die Obduktionen noch in der Gerichtsmedizin Oldenburg durchgeführt werden.« Er bemerkte die Enttäuschung beim Bestatter und beeilte sich, hinzuzufügen: »Ich gebe Ihren Vorschlag gerne an die Polizeiverwaltung weiter, aber Sie wissen ja, das kann dauern. – Für die erste genaue Inaugenscheinnahme des Leichnams sind Ihre Räume hervorragend geeignet«, lobte er.

      Erdmann strahlte wieder. »Danke, Herr Broning. Für die spätere Identifizierung der Leichen dürfen Sie mein Institut auch gerne benutzen.«

      »Danke, Herr Erdmann!« Jan fand, dass jetzt genug Höflichkeiten ausgetauscht worden waren. »Können wir jetzt …?«

      »Aber natürlich.« Erdmann holte eine kleine Flasche mit Pfefferminzölkonzentrat aus der Hosentasche. Er rieb sich etwas davon unter die Nase. »Möchten Sie auch? Ist vielleicht besser.«

      Stefan und Jan benutzten es ebenfalls. Die Gerüche von Pfefferminz und einsetzender Verwesung vermischten sich im Raum.

      »Ich habe mir erlaubt, den Reißverschluss des Leichensacks zu öffnen, damit der Inhalt trocknen kann«, erklärte der Bestatter unaufgefordert.

      »Sehr gut, Herr Erdmann!«, lobte Jan Broning.

      Stefan Gastmann nahm die Digitalkamera aus dem Fotokoffer und fotografierte die Leiche zunächst von allen Seiten. Jan Broning entfernte vorsichtig die Plastiktüten von den Händen des Toten. Diese Tüten sollten verhindern, dass Fremdspuren auf die Hände gerieten. Außerdem sollte Spurenmaterial, das sich während des Transportes der Leiche löste, aufgefangen werden. Jan Broning sah sich das Innere der Tüten genau an. In einer lag ein ausgerissener, blutiger Fingernagel, der sich beim Transport von der Hand gelöst hatte. Broning versiegelte die Tüte und nahm einen speziellen Stift aus dem Spurensicherungskoffer. Er beschriftete die Tüte mit: Rechte Hand/ausgerissener Fingernagel.

      Stefan schaltete die Kamera auf Naheinstellung um. Jan bewegte die Hände des Toten so, dass sein Kollege sie von allen Seiten fotografieren konnte. Im Blitzlicht der Kamera sahen die Verletzungen noch grausamer aus. Auf dem Handrücken war das Fleisch teilweise bis auf die Knochen aufgerissen. Die weißen Knöchel waren im Kontrast zur blutverschmierten Haut überdeutlich zu sehen.

      Stefan legte die Kamera zur Seite und suchte den Blickkontakt zu seinem Kollegen. Jan Broning ahnte, was in seinem Kopf vorging. »Ja, ich weiß, Stefan, die Hände sehen entsetzlich aus. Diese schweren Verletzungen können eigentlich nur bei einem verzweifelten Kampf ums Überleben entstanden sein.«

      Er versuchte, die Bilder zu verdrängen, die in seinem Kopfkino entstanden, und nahm eine Pinzette und mehrere durchsichtige Plastiktüten aus dem Tatortkoffer. »Lass uns erst die Spuren unter den Fingernägeln sichern.«

      Die beiden Kriminalbeamten begannen systematisch und konzentriert mit ihrer Arbeit. Stefan beschriftete die Tüten und Jan untersuchte nacheinander die Finger. Sobald er Holzsplitter oder anderes Spurenmaterial entdeckt hatte, entfernte er diese Spuren vorsichtig mit der Pinzette. Stefan hielt ihm jeweils eine bereits beschriftete Tüte hin.

      Der billig aussehende Ring am kleinen Finger bereitete Jan erhebliche Probleme, weil er sich nicht vom Finger lösen ließ.

      Der Bestatter hatte die Arbeiten der Ermittler aus dem Hintergrund still verfolgt und bemerkte das Problem. Er ging in einen Nebenraum und kam mit einer Dose zurück. »Hier, Herr Broning.« Erdmann hielt dem Polizisten die Dose hin. »Versuchen Sie es doch einmal mit Flutschi!«

      Jan nahm die unbeschriftete Dose entgegen, öffnete den Deckel und betrachtete etwas skeptisch den Inhalt. Sie war mit einem farblosen Gel halb gefüllt.

      »Ein Gleitmittel.« Erdmann räusperte sich und grinste verschmitzt. »Vaseline.«

      Jan wollte sich nicht vorstellen, zu welchem Zweck Erdmann es benutzte. Zum Glück trug er noch die Latexhandschuhe. Er zögerte kurz, dann nahm er mit spitzen Fingern etwas von dem Gel und strich damit den kleinen Finger des Toten und den festsitzenden Ring ein. Jan zog noch einmal an dem Ring, und der ließ sich endlich vom Finger lösen. Stefan hielt ihm eine geöffnete Tüte hin, und Jan ließ den Ring hineinfallen.

      Die beschriftete und versiegelte Tüte hielt er ins grelle Licht der Deckenstrahler. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Goldring. Innen befand sich sogar ein Echtheitsstempel. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich aber um ein anderes poliertes Metall, vermutlich Messing.

      Neben den Geräuschen des Ventilators hörte Jan die Singsangstimme des Bestatters. Erdmann summte die Melodie eines Kirchenliedes. Der Mann irritierte Jan ein wenig.

      »So, Herr Erdmann, Sie können den Toten jetzt vorsichtig ausziehen.«

      Der Bestatter entfernte behutsam die Kleidung des Toten. Dabei summte er einen anderen Choral. Stefan sah Jan an und verdrehte die Augen. Er legte die Kleidungsstücke in spezielle Plastiktüten.

      Schließlich lag der Tote nackt auf dem Chromtisch. Seine rote Gesichtsfarbe wollte nicht zur Situation passen.

      Jan Broning nahm eine kleine Taschenlampe und ein Holzstäbchen aus dem Spurensicherungskoffer und öffnete vorsichtig den Mund der Leiche. Er leuchtete die Mundhöhle aus und drückte die Zunge etwas herunter. Die kirschrote Farbe der Schleimhäute war nicht zu übersehen. Er legte die Lampe weg. »Wir müssen den Toten zur Seite drehen. Pack mal mit an, Stefan.«

      Gastmann und der Bestatter hielten den Toten in der Seitenlage fest und Jan trat einige Schritte vom Tisch zurück. Die roten Totenflecke waren gleichmäßig auf dem Rücken verteilt. Er machte zunächst einige Aufnahmen mit der Kamera, dann legte er sie weg und betrachtete jeden Körperteil aus der Nähe. Am Nackenbereich fielen ihm zwei Abdrücke in einem Abstand von fünf bis sieben Zentimetern voneinander auf. Sie sahen aus wie zwei Nadelstiche.

      Er gab Stefan ein Maßstabsdreieck in die Hand, damit man auf dem Foto einen Größenvergleich hatte. Stefan hielt den Maßstab an die Einstiche, während Jan fotografierte.

      Er überprüfte die Qualität der Digitalaufnahmen, als sein Handy klingelte. Jan legte die Kamera zur Seite. Brede zeigte das Display an. Jan drückte die grüne Taste. »Broning!«

      »Hier Albert. Toter vom Parkplatz identifiziert. Messevertreter Erich Schulte. Vermisst gemeldet von Ehefrau. Alles weitere später.«

      Jan schaute erstaunt auf sein Handy. Die Verbindung war getrennt worden. Typisch Brede – bloß kein Wort zu viel.

      Er steckte das Handy weg und schaltete die Kamera aus. »So, Stefan, ich glaube, wir haben alles. Lass uns zusammenpacken.«

      An der Eingangstür verabschiedete sich Jan vom Bestatter. »Herr Erdmann, vermutlich haben wir die Identität des Toten ermittelt. Wir möchten, dass die Ehefrau ihn identifiziert. Vielleicht schaffen wir es noch heute Abend. Wir rufen Sie rechtzeitig vorher an. Bitte gehen Sie davon aus, dass die Leiche von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und eine Obduktion in der Rechtsmedizin angeordnet wird. Könnten Sie den Transport nach der Gegenüberstellung organisieren?«

      »Kein Problem, Herr Broning, dass krieg ich hin. Bis später dann.«

      »Gott sei Dank hat das Gesinge jetzt ein Ende«, stöhnte Stefan, als sie ihre Ausrüstung im Bulli verstauten. »Was für ’ne Type, der Erdmann!«

      Jan machte sich einige Notizen auf einem Klemmbrett. Er atmete hörbar aus. »Kannste wohl sagen. Aber bei dem Beruf wird man vermutlich etwas schräg. Du, jetzt sind wir ja unter uns … Was ist deine Meinung zu unserem Toten?«

      Stefan überlegte einen


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