Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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Information zu erzwingen, und er ist ihm unter den Händen weggestorben? Sozusagen ein Betriebsunfall?«

      »Nicht unbedingt. Vielleicht hat der Täter ja auch alles bekommen, was er wollte, und hatte keine Verwendung für einen lästigen Zeugen.«

      »Ertränkt also, nicht ertrunken«, konstatierte Stahnke.

      Kramer nickte.

      Stahnke schaute auf das Gesicht des Toten, dessen Schädel gerade von Mergner befingert wurde. Sah der womöglich aus wie ein Iraker? Eher nicht – allerdings mochte die Blässe des Todes den Eindruck verfälschen. Wie auch immer, Kramers Agentenphantasien waren doch sehr weit hergeholt. Immerhin befanden sie sich hier in Leer, einer Kleinstadt im äußersten Nordwesten der Bundesrepublik, gleich hinterm Deich und vor der holländischen Grenze. In dieser Ecke tummelten sich gewiss keine gewalttätigen Islamisten und deren Gegenspieler, die Geheimdienste gewalttätiger Großmächte.

      Oder?

      »Aha.« Das war Mergner. Gegen seinen Willen hatte er sein Protestschweigen gebrochen. »Schwellungen am Hinterkopf! Unter dem beneidenswert dichten Haarschopf nicht zu sehen, sondern nur zu ertasten. Mehrere Schwellungen. Der Mann wurde also vermutlich bewusstlos geschlagen.«

      »Während er in der Wasserkiste lag?«, fragte Stahnke. »Oder vorher?«

      Mergner stemmte die Hände in die Hüften und wackelte mit dem Kopf. »Vorher, nachher, vielleicht auch zwischen zwei Anwendungen!«, keifte er mit verstellter Stimme. »Mann, Stahnke! Lernen Sie es denn nie?«

      »Wer weiß?«, raunte der Hauptkommissar und wandte sich wieder Kramer zu. »Als Erstes müssen wir wissen, wer der Tote ist. Irgendwelche Anhaltspunkte?«

      »Keine Papiere, wie gesagt«, resümierte Kramer. »Die beiden Handwerker, die den Mann gefunden haben, kennen ihn nicht. Hier gibt es keine Hausbewohner, die man fragen könnte; das Gebäude steht leer. Sowie wir die Fotos haben, klappern wir die Nachbarn ab, vielleicht hat ihn einer von denen schon mal gesehen. Parallel Abnahme und Abgleich der Fingerabdrücke. Wenn das alles nichts bringt, müssten wir an die Presse gehen.«

      Stahnke nickte. Mehr fiel ihm dazu auch nicht ein; Kramer war wieder einmal perfekt. Man konnte ihn getrost in Eigenregie machen lassen. Der Hauptkommissar nickte versonnen, dann zuckte er plötzlich zusammen. De Beers Worte waren ihm wieder eingefallen. »Einen Stahnke kann hier wirklich keiner gebrauchen!« – Hatte der Mann damit womöglich recht?

      6.

      Zum Gallimarkt durfte sie, das hatte Mama ihr erlaubt. Aber von Stinus abholen lassen wollte sich Erika auf keinen Fall, wenigstens nicht zu Hause. Mama würde die Augen zusammenkneifen, Fragen stellen und womöglich ihre Erlaubnis im letzten Moment widerrufen. Das durfte nicht passieren. Der Handel musste erfüllt werden. Stinus hatte seinen Teil erledigt; es blieb abzuwarten, was dabei herauskam. Aber jetzt war erst einmal sie dran.

      Also wartete sie bei ihrer Oma auf ihn. Nicht, dass die nicht auch ihre Bemerkungen machte! Sicher noch mehr als Mama. Aber sie moserte nicht, sondern stichelte höchstens. Und auf gar keinen Fall verbot sie etwas. Auch wenn sie von dem Handel zwischen Erika und Stinus überhaupt nichts wusste. Und schon gar nicht, dass dieser Handel auch für sie selbst von größter Bedeutung war.

      »Moi süchst du ut, mien Tüt!«, lobte sie Erika. Tatsächlich entsprach ihre Enkelin in ihrem langen Rock, der weißen Bluse unter der dunkelroten Jacke und mit der Schneckenfrisur ziemlich genau dem Schönheitsideal ihrer Jugend. »Moi Tüch! Tja, da kann man mal sehen, es kommt doch alles wieder.«

      Erika verzog ihren Mund. »Na toll! Ich laufe rum wie beim BdM, weil der Hitler das so will und Mama mich sonst nicht aus dem Haus lässt, bin angezogen wie eine alte Frau, und dir gefällt das auch noch! Und ich dachte, du kannst die Nazis nicht leiden! Hast du dich etwa bekehren lassen?«

      Erikas Großmutter hob abwehrend ihre Hände. »Geh mir bloß weg mit Hitler!« Ihre Weltanschauung war fest gefügt, und zwar schon lange vor der Weimarer Republik und den Nationalsozialisten – allerdings aus ziemlich widersprüchlichen Komponenten. Da war zum einen der Geist der Kaiserzeit, den sie in ihrer Jugend mit der Muttermilch eingesogen hatte. Zum anderen gab es die Ideale der Arbeiterbewegung, für die ihr Ehemann sie begeistert hatte. Und dann war da noch die allgegenwärtige Kirche mit ihrer allsonntäglichen Indoktrination. Für die Nazi-Ideologie gab es da keinen Platz mehr; sie war einfach zu spät gekommen.

      Außerdem hatten die Nazis ihr den Mann genommen. Die Braunen hatten bei ihr verspielt, gründlich und für immer. Dieser Abneigung machte sie gelegentlich Luft, obwohl sie wusste, wie riskant das war. Auch jetzt musste ein saftiger Fluch her. »Hitler!« Sie spuckte den Namen förmlich aus. »Hitler, de oll Jööd!«

      »Aber Oma!« Erika schlug sich die Hände vor den Mund, teils vor Schreck über solchen Leichtsinn, teils, um nicht laut herauszuplatzen. »Weißt du eigentlich, was du da sagst?«

      Es pochte an der Tür. Die alte Frau und das Mädchen, das wie eine alte Frau angezogen war, fuhren erschrocken zusammen. Und gleich darauf noch einmal, denn das laute, fordernde Pochen wiederholte sich. Schutzsuchend drückte sich Erika an ihre Großmutter. Sie konnte spüren, wie Oma zu zittern begann.

      Dann flog die unverschlossene Tür auf, und lautes, helles Lachen ertönte. Zweistimmiges Lachen, denn außer Stinus drängte sich noch ein weiterer Junge in den Korridor. Er war etwas größer als der Pimpf, der wieder seine Uniform trug, allerdings mit langen Hosen und einem Mantel darüber. »Ha!«, rief Stinus übermütig. »Rollkommando! Darauf wart ihr nicht gefasst, was? Aber keine Angst, alles nur Spaß.« Er grüßte Erikas Großmutter flüchtig, ohne ihr richtig ins Gesicht zu blicken, und wenn ihm auffiel, dass sie leichenblass war, dann zeigte er es nicht.

      Erika hatte sich von ihrer Oma gelöst und starrte den anderen Jungen an. Er wirkte kräftig, hatte braunes Haar, schmale Hände und ein freundliches Gesicht. Sieht nicht schlecht aus, dachte sie. Aber wer ist das, und was macht er hier? Schließlich hatte sie ein Abkommen mit Stinus und mit niemandem sonst.

      »Das ist Fritz«, sagte Stinus, der ihren Blick bemerkt hatte. »Er wohnt jetzt bei Fleischhauers. Ich hab gesagt, er kann mit zum Gallimarkt nach Leer. Hast doch nichts dagegen, oder?«

      Erika schüttelte nachdenklich den Kopf. Evert Fleischhauer war Schuster, trotz seines Namens und seiner Erscheinung. Er war der größte und breiteste Mann, den Erika jemals gesehen hatte, hatte das finsterste Gesicht, das sie sich vorstellen konnte, und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Es fiel leicht, sich auszumalen, wie dieser Fleischhauer ein totes Schwein oder auch ein Rind mit einem langen Beil in Hälften und Viertel teilte, ohne sich anzustrengen. Tatsächlich aber hockte der Riese von morgens bis abends zusammengekrümmt in seiner Schusterwerkstatt im Tiefparterre unter seiner Wohnung, hantierte mit Leder, Ahle und Garn, reparierte Schuhe und fertigte neue an. Mittags und abends ging er die Stiege hoch in seine Wohnung, wo ihn seine Frau und nicht weniger als neun Kinder erwarteten, davon sieben Jungen. Erika kannte sie alle aus der Schule, wilde Burschen, die keiner Rauferei aus dem Wege gingen, ohne wirklich bösartig zu sein. Keiner davon ähnelte diesem Fritz auch nur entfernt. Na ja, trotzdem konnte er ja ein Verwandter sein, vielleicht ein entfernter. Warum sonst sollte einer bei Fleischhauers wohnen, wo es bestimmt sehr eng und schrecklich laut zuging, noch enger und lauter als in anderen wenig betuchten Familien?

      Stinus drängte sich an Erika vorbei und stiefelte ganz selbstverständlich den Flur entlang zur Vorderküche, Fritz im Schlepptau. Offenbar hatte er ihm von dem wunderbaren Schiffsmodell unter dem Glassturz erzählt und wollte es ihm zeigen, ganz so, als sei er hier zu Hause. Fritz schenkte Erika immerhin einen entschuldigenden Blick, während er Stinus hinterhertrottete.

      Erikas Großmutter schien sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen zu haben. »Machst du uns noch einen Kakao?«, fragte das Mädchen. »Dann haben wir wenigstens etwas Warmes im Bauch, wenn wir gehen. Ist ja schon ziemlich kalt draußen.« Immerhin war es bereits Mitte Oktober.

      »Kannst mir helfen dabei.« Oma lächelte schon wieder, stellte Erika erleichtert fest. Wenn auch etwas dünn. Aber das war ja nach dem Schreck kein Wunder.

      Erika fischte ein Steertpanntje aus


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