Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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      Stinus nickte, ohne sich umzudrehen. »Ja, das ist wahr«, stimmte er zu. »Die Juden sind Deutschlands Unglück, das steht mal fest.«

      Gott sei Dank, dachte Erika und hoffte, dass ihre Großmutter nicht daran denken mochte, Stinus’ Irrtum aufzuklären.

      »Nun macht mal voran«, sagte die stattdessen. »Sonst verpasst ihr noch die Fähre.«

      Die Leute um sie herum gingen noch nicht auseinander, sondern besprachen laut und erregt das Geschehene, hämisch zumeist und ohne einen Ton des Bedauerns. Trotzdem kamen sie jetzt mit ihren Fahrrädern leichter durch. Schnell brachten sie die Oberflethmerstraße hinter sich und erreichten den Fährpatt. Schon hatten sie die Deichlinie hinter sich; vor ihnen glitzerte das Hafenbecken in der kalten Oktobersonne. Allerhand Boote dümpelten an ihren Festmachern. Die Fähre lag abfahrtbereit.

      Erika war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch Lust auf den Jahrmarkt hatte, so voll war ihr Kopf von den fürchterlichen Bildern, die noch kaum verblasst waren. Sollte sie einfach umkehren? Aber da war diese Abmachung mit Stinus, so bindend wie ein Vertrag. Gut, sie konnte Übelkeit vorschützen, ein plötzliches Unwohlsein. Unterleibsbeschwerden. Da würde Stinus nicht nachfragen, das würde er sich nicht trauen. Alle Jungs hatten eine heilige Scheu vor den Mysterien des weiblichen Körpers, das wusste Erika genau. Zwar brannten sie alle darauf, mehr, viel mehr darüber zu erfahren, aber fragen würden sie nie. Lieber sich die Zunge abbeißen.

      Unwillkürlich war sie langsamer gegangen. Stinus, dem es nach dem spannenden Aufenthalt nun nicht schnell genug gehen konnte, hatte schon ein paar Meter Vorsprung. Auch vor Fritz, der ebenfalls seinen Schritt verhalten hatte, den Blick zu Boden gerichtet. Dieser Fritz kam Erika immer eigentümlicher vor. Warum benahm er sich so … so … anders als andere Jungen?

      Als erneut Motorengeräusch ertönte, dachte Erika zunächst, es käme von der Fähre, die gleich abfahren würde. Dann erst registrierte sie, dass das Geräusch von hinten kam. Und lauter wurde. Das große Auto war wieder da, hatte seine Rundfahrt durch den kleinen Ort offenbar beendet. Dröhnend bog es in den Fährpatt ein, die Nazis immer noch auf den Trittbrettern, die beiden Geschundenen immer noch eingeklemmt im Kofferraum. Direkt am Hafenbecken, nur wenige Schritte von Erika und ihren Begleitern entfernt, hielt der Wagen an. Sekunden später hatte sich auch die Traube der Gaffer wieder versammelt.

      Der Kohlenhändler stieg aus, ein aufgeschossenes Tau über dem Arm. Woher hatte er das plötzlich? Mit breitem, fettem Grinsen wandte sich der Mann an die Umstehenden. »So, Volksgenossen«, tönte er, »jetzt wollen wir diesen Judenlümmeln mal zeigen, wie wir Ostfriesen mit solchen Schädlingen umgehen. Vorwärts, holt die Schweine mal raus da!«

      Eifrige Helfer lösten die provisorische Vertäuung des Kofferraumdeckels. Die beiden Gefesselten, die aus Schnitt- und Schürfwunden am Hals bluteten und kaum noch bei Bewusstsein waren, wurden herausgezerrt, auf die Füße gestellt und unsanft aufrecht gehalten, Rücken an Rücken. Der Kohlenhändler nahm ein Tauende in die Hand und reckte den Arm in die Höhe. »Passt alle gut auf!«, brüllte er. »Jetzt werden die beiden Juden hier mal mit Emswasser Bekanntschaft machen! Nachher werden sie sauberer sein als vorher, denn so gründlich haben die sich bestimmt noch nie gewaschen! Vor allem aber wird Ostfriesland hinterher viel sauberer sein. Wir spülen den Dreck weg, und zwar endgültig, das verspreche ich euch.« Mit diesen Worten bückte er sich, schlang das Tau den beiden bereits Gefesselten um die Leiber und knotete die Schlinge fest zusammen. »Janssen, was ist nun mit dem Boot?«, rief er über seine Schulter.

      »Kommt!«, ertönte die militärisch knappe Antwort. Janssen treidelte bereits eine schlanke Motorbarkasse die Kaimauer entlang in Position, unterstützt von Erikas Vater, der, nachdem er den achteren Festmacher provisorisch belegt hatte, den Glühkopf des schweren Diesels mit einer Lötlampe auf Temperatur brachte.

      »Sie wollen die beiden hinter das Boot binden!« Stinus’ Gesichtsausdruck wechselte zwischen Unglauben und Gier. »Sie wollen die Juden durchs Wasser schleifen! Mensch, die meinen es ernst.«

      »Das überleben die beiden nicht«, stöhnte Erikas Großmutter und verbarg ihr Gesicht in den Handflächen.

      Fritz schwieg. Tränen liefen über seine wachsbleichen Wangen.

      7.

      Als Stahnke zu Kramer hinüberging, stand Dr. Mergner bei ihm, die weißen Haare unternehmungslustig gesträubt, in der Hand einen Stoß zusammengehefteter Kopien. »Fertig!«, verkündete er stolz. »Na, war das schnelle Arbeit?«

      Der Hauptkommissar zuckte die Achseln. »Mal gucken. Wenn’s uns schlauer macht, war’s schnell. Wenn nicht, dann hat es noch zu lange gedauert.«

      Mergner schickte Stahnke einen vernichtenden Blick, der allerdings durch seine dicken Brillengläser einiges an Sprengkraft verlor. Dann wandte er sich demonstrativ wieder Kramer zu. »Zunächst einmal steht die Todesursache jetzt eindeutig fest«, referierte er. »Die Obduktion hat ergeben, dass der Mann ertrunken ist.«

      Stahnke schnaubte. »Kunststück! Wenn man eine Leiche in einer wassergefüllten Kiste findet, dann ist es ja wohl kein Wunder, wenn die Lunge voll Wasser ist.«

      »Das habe ich nicht gesagt«, korrigierte Mergner scharf. »Im Gegenteil. Natürlich hatte der Tote keine wassergefüllten Lungen. Vielmehr waren sie voll mit sogenanntem Schaumpilz, also feinen Blasen aus Schleim und Luft, vermischt mit etwas Wasser. Wie es eben typisch ist für einen Ertrunkenen.« Wieder so ein giftiger Blick auf Stahnke: »Das sollten Sie aber wirklich wissen.«

      Stahnke spürte aufsteigende Hitze im Nacken. Klar, eigentlich wusste er das auch. Hatte auch schon einschlägige Befunde in der Hand gehalten, in denen von ballonierten Lungen die Rede war, Lungen, die gebläht waren von diesem Schaum und in die man Dellen drücken konnte, weil sie ihre Elastizität verloren hatten. Er mochte gar nicht daran denken, wie es zuging, wenn während des Ertrinkens solcher Schaum entstand.

      Nachdem Mergner aber Stahnkes Erinnerung nun einmal auf die Sprünge geholfen hatte, fielen dem gleich noch ein paar Details mehr ein. »Wie sieht es denn mit dem Magen des Toten aus? War da Wasser drin?«

      Der Mediziner runzelte die Stirn und blinzelte über seine Brillengläser hinweg. »In der Tat, ja«, antwortete er verblüfft. »Das könnte jedoch …«

      »… auch postmortal dorthin gelangt sein«, unterbrach Stahnke. »Ist bekannt. Und was ist mit dem Dünndarm?«

      »Ebenfalls Wasser«, erwiderte Mergner und nickte anerkennend. »Womit wir einen eindeutigen Beweis für Tod durch Ertrinken hätten.«

      »Wurde das Wasser analysiert?«

      »Was denken Sie denn? Natürlich! Es ist mit dem Wasser in der Kiste identisch. Beziehungsweise mit dem Wasser, das diesen Keller halb geflutet hatte. Wobei es sich um hiesiges Leitungswasser ohne signifikante Beimischungen handelt. Als Beweis, dass der Betreffende nicht anderweitig ertränkt wurde, würde ich das aber gelten lassen.«

      Stahnke begann breit zu grinsen. »Aber, aber, Herr Doktor! Jetzt fangen Sie ja doch an, unsere Arbeit zu machen. Erst bewerten Sie Indizien und befördern sie zu Beweisen – und dann machen Sie aus Ertrinken plötzlich Ertränken! Kann es sein, dass Sie irgendwo einen Trumpf stecken haben, den Sie eigentlich noch ausspielen wollten?«

      Jetzt war es an Mergner, zart zu erröten. »Tja, äh … Sie wissen ja, diese Schwellungen am Hinterkopf des Toten. Ich wollte da ganz sichergehen. Aber es steht zweifelsfrei fest, dass dem Mann diese Verletzung vor seinem Tod zugefügt worden ist. Und dass die Schläge hart genug waren, um ihm das Bewusstsein zu rauben.«

      Stahnke wechselte einen stummen Blick mit Kramer. Von gewaltsamer Tötung waren sie ohnehin schon ausgegangen, das ganze Arrangement dort in diesem Kellergewölbe, die gefesselten Hände und Füße ließen gar keine andere Schlussfolgerung zu. Jetzt schied wohl die Möglichkeit eines Unfalls aus, etwa bei einem schiefgegangenen Waterboarding. Wenn dem Ertränken dieses alten Mannes tatsächlich eine peinliche Befragung vorausgegangen war, dann hatten die Täter diese wohl als beendet erachtet. Entweder, weil sie die Hoffnung aufgegeben hatten, an Informationen zu kommen – oder weil sie schon alles erfahren


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