Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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Torf stechen mit einem Holzspaten! Draußen im Schuppen lag so ein klobiges Ding, es war schwer und nur mit viel Kraftaufwand zum Graben in die Erde zu bekommen. War man da nicht schon nach einer halben Stunde fix und fertig? Antreten kannte sie, das machten sie in der Schule auch, manchmal sogar im Regen. Wenn man müde war, fiel einem das bestimmt nicht leicht, schon gar nicht stundenlang. Und Prügelgasse? Dieses Wort hatte sie noch nie gehört, aber sie konnte es sich ausmalen. O Gott, dachte Erika, lieber Gott, wie kannst du das nur zulassen!

      Was, wenn sie selbst all das ertragen müsste? Sterben würde sie, früher oder später. Wahrscheinlich früher, wenn sie befürchten musste, dass solches Leid kein Ende hatte. Wenn es keine Hoffnung gab. Bestimmt starben dort im Moor viele Menschen, jeden Tag, und je länger es dauerte, desto mehr. Ihr Opa lebte noch, hatte dieser Janssen gesagt. Wann? Wie lange war das schon wieder her? Was war seitdem passiert?

      Sie wollte Stinus fragen, wie viele Menschen in diesem Lager schon gestorben waren. Vielleicht hatte Janssen ja sogar damit geprahlt. Aber sie fragte lieber nicht, hatte Angst, dass er noch einmal die Achseln zucken würde. Das könnte sie nicht ertragen.

      Vermutlich hatte dieser Janssen aber doch nicht mit Toten geprahlt. Darüber wurde nicht offen gesprochen. Merkwürdig eigentlich, wenn man bedachte, wie laut und unverblümt gedroht und angekündigt wurde. Warum zögerte man bei der Vollzugsmeldung? Glaubte man, irgendjemanden damit täuschen zu können? Lächerlich, es weiß doch sowieso jeder, was läuft, dachte Erika. Sie jetzt auch.

      Was konnte man tun? Was konnte sie tun? Sie war nur ein Kind, und die Nazis waren mächtig und überall, selbst das andere Kind in diesem Raum gehörte zu ihnen. Wer sich gegen die Nazis stellte, spielte mit seinem Leben. Was blieb? Erika wusste, was ein Märtyrer war, das hatte sie in Religion gelernt. Märtyrer gingen sehenden Auges in den Tod, wenn sie an etwas glaubten. Erika aber hatte nie begriffen, wozu ein Märtyrertod gut sein sollte. Sie liebte ihren Großvater, aber was konnte ihr Tod ihm helfen? Wie konnte der ihn retten, ihm wenigstens einen weiteren Monat verschaffen, eine Woche, einen Tag?

      Hoffnung. Das Wort stand ihr plötzlich vor Augen. Ohne Hoffnung starb man schneller. Mit Hoffnung – später? War Hoffnung nur Trug, eine unnötige Verlängerung unerträglicher Leiden? Das konnte man nicht wissen. Und das war vielleicht schon alles, worauf man hoffen konnte.

      »Ich möchte meinem Opa eine Nachricht zukommen lassen«, sagte Erika leise, aber mit fester Stimme.

      »Was?« Stinus fuhr herum. »Bist du wahnsinnig? Weißt du, was passiert, wenn das rauskommt?« Er schien sich das gerade vorzustellen, denn seine Augen quollen hervor.

      Jetzt war es an Erika, die Achseln zu zucken. »Auch nicht mehr als jetzt schon, denke ich«, sagte sie leichthin. Janssen hatte Stinus etwas erzählt, das ihr wichtig war; dafür müsste sie ihm dankbar sein. Stattdessen erwog sie, den Mann unter Druck zu setzen, ebenso wie Stinus, ohne Gewissensbisse, denn beide hatten sich schuldig gemacht.

      Himmel, dachte Erika, was tue ich hier? War ich nicht vor ein paar Wochen noch ein Kind?

      Stinus starrte und schwieg, schien ihren Gedankenpfaden zu folgen und zum gleichen Ergebnis zu kommen. Er nickte nachdenklich. »Habt ihr Schnaps?«, fragte er dann unvermittelt.

      »Glaube schon«, antwortete Erika. In der Speisekammer standen bestimmt noch ein paar Flaschen. Oma hatte immer auf Vorratshaltung geachtet, und seit Opa weg war, trank hier ja keiner mehr Korn.

      »Gut«, sagte Stinus. »Wir können es versuchen. Janssen kommt ja ziemlich oft nach Jemgum, wenn er frei hat. Mit Schnaps wird es gehen. Schreib du was auf. Aber keine Namen, verstanden? Schreib so, dass dein Opa weiß, von wem es ist, aber sonst keiner.« Er verschränkte seine Arme vor der schmalen Brust und richtete sich zu seiner ganzen, bescheidenen Größe auf. »Und ich will etwas dafür.«

      Nicht das Schiff, dachte Erika, bitte, bitte nicht das Schiff. Was soll ich bloß Oma erzählen? Und kann ich etwa nein sagen? Bitte nicht das Schiff!

      »Du musst mit mir nächsten Sommer zum Müggenmarkt gehen«, verlangte Stinus. »Und auch zum Gallimarkt nach Leer. Nächsten Monat! Ich in Uniform, du mit Zöpfen. Mit Händeanfassen! Sonst mache ich es nicht. Na, was ist?«

      Gott sei Dank. Erika strahlte vor Erleichterung. Nur ein paar Jahrmarktsbesuche, was war das schon! »Abgemacht«, sagte sie.

      Jetzt strahlte auch Stinus. So, als hätte er einen überraschend guten Preis erzielt.

      5.

      Wäre er bloß nicht noch einmal in sein Büro gegangen! Und hätte er, einmal dort, nur die Finger vom Telefon gelassen! Gegen antrainierte Reflexe aber kam auch ein Stahnke nicht an, und so hatte er Schmitz am Ohr gehabt, den Kollegen Schmatzeschmitz aus Emden mit der erbetenen Info in diesem zähen, überlagerten, vielleicht schon erkalteten Fall von Brandstiftung, auf dem er seit Wochen uninspiriert herumkaute, weit uninspirierter als dieser Schmitz auf seinen ewigen Lakritzen. Klar, dass er seinen Kollegen nicht mit zwei Worten abfertigen konnte, schließlich erwies der ihm ja einen Gefallen. Also kaute ihm Schmatzeschmitz ein Ohr ab. Hörbar. Stahnke hatte ein paar Notizen auf seine Schreibunterlage gekrickelt, sich mehrmals bedankt und es schließlich doch noch geschafft, das Gespräch zu beenden, ohne die freundschaftlichen Kontakte zum Emder Ableger der Inspektion entscheidend zu gefährden. Trotzdem, eine Viertelstunde hatte ihn das gekostet.

      Und jetzt war er zu spät.

      Als er den feuchten, gewölbeartigen Keller betrat, war Dedo de Beer schon da. Wie ein Feldherr ohne Hügel stand er inmitten geschäftiger Overall-Träger, die er dirigierte wie ein eingespieltes Orchester, das seine Partitur im Schlaf beherrschte und vielleicht alles Mögliche brauchte, bestimmt aber keinen Dirigenten. Auch Kramer war da, wie Stahnke mit aufwallender Eifersucht feststellte. Immerhin aber hielt er Abstand zum neuen Chef.

      »Ja, genau dahin. Sehr gut, sehr gut.« De Beer begleitete die Aufstellung einer dieser neuartigen Rundum-Kameras, die ein geradezu plastisches Abbild des gesamten Tatortes festzuhalten vermochten, mit einem steten Fluss von Kommandos. Dass sich keiner der Techniker darum kümmerte, scherte ihn überhaupt nicht. »Jawoll, so muss das gehen. Das ist die neue Zeit, was, Kollegen? Genau das brauchen wir hier. Keine veralteten Methoden aus der Mottenkiste.« Beifallheischend schaute de Beer um sich. »Fossilien. Ab damit ins Museum! Die alten Zeiten sind vorbei. Einen Stahnke zum Beispiel kann hier wirklich keiner gebrauchen.« Dass sein Blick im selben Moment auf den Träger dieses Namens fiel, hätte kein Dramaturg wirkungsvoller arrangieren können. De Beer verstummte und erstarrte, und mit ihm verstummte und erstarrte jeder andere im Raum.

      Warum Stahnke gerade jetzt breit zu lächeln anfing, hätte er selbst nicht zu erklären vermocht. Vielleicht, weil es nun offensichtlich war. Die Fehde war erklärt, die Duellforderung ausgesprochen, es gab kein Zurück, jedenfalls nicht mehr zu vernünftig-friedlicher Kooperation. Fein, dachte der Hauptkommissar, dann also herunter mit den Handschuhen. Und jeder hier konnte bezeugen, dass er nicht angefangen hatte.

      Ob de Beer das ähnlich sah? Sein Blick jedenfalls zuckte zurück wie Finger von einer heißen Herdplatte, blitzartig und doch zu spät, und sein grauer Teint zeigte eine leichte rosa Beimischung. Vergeblich versuchte der Kriminalrat, in die Feldherrnrolle zurückzufinden; seine Befehlsgesten gerieten zu einem hilflosen Rudern der Hände, während ein plötzliches Stottern seinen ohnehin überflüssigen Kommandos jede Überzeugungskraft raubte. Einige Sekunden lang ertrug de Beer die ausdruckslosen Blicke seiner Untergebenen, dann brach er mit einem fahrigen »Na, Sie wissen dann ja Bescheid!« seine Versuche ab, wirbelte herum und stürmte dem Ausgang zu. Dabei musste er dicht an Stahnke vorbei, und es war sicherlich nicht einfach, den Hauptkommissar dabei keines weiteren Blickes zu würdigen, aber de Beer brachte das fertig. Stahnke glaubte seine Zähne knirschen zu hören, konnte jedoch nicht ganz ausschließen, dass das Wunschdenken war.

      Die Hände tief in den Hosentaschen, tapste er zu Kramer hinüber, peinlich darauf bedacht, nichts zu berühren, was bereits markiert war oder auch nur eventuell als Spur in Frage kam. »Danke für die Nachricht«, murmelte er.

      Kramer zuckte nur die Achseln. Wortlos reichte er dem Hauptkommissar ein Paar Latexhandschuhe.

      Während Stahnke die


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