Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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hatte lange und sehr ernst mit ihren Eltern gesprochen, und Erikas Vater hatte sie anschließend mit dem Rohrstock verprügelt.

      Ihre Lehrerin hatte sie seither nur einmal wiedergesehen, nämlich als sie eines Abends bei ihnen zu Hause erschienen war und versucht hatte, Erikas Eltern davon zu überzeugen, ihre begabte Tochter nach Leer aufs Gymnasium zu schicken. Damit aber biss sie bei Vater auf Granit. Erikas Enttäuschung hielt sich in Grenzen; sie hatte nichts anderes erwartet. Das Gymnasium war etwas für reicher Leute Kinder, und sie waren arm. Nicht umsonst wohnten sie in der Arbeitersiedlung Neu-Jemgum.

      Schön war das alles nicht. Was sie aber wirklich nicht verknusen konnte, war, dass in ihrer Klasse seit Kurzem plötzlich Stinus Plöger Primus und Lehrers Liebling war. Ausgerechnet Stinus, der doch bis vor drei Jahren nur in Sport und Religion Einsen gehabt hatte und sonst nur Dreien und Vieren!

      Wie auf Bestellung hörte sie wieder das Schutzblech klappern. Tatsächlich, da kam Stinus schon wieder angeradelt auf seinem viel zu großen Fahrrad, mit seiner viel zu großen kurzen Hose und dem kinderkackebraunen Hemd mit den Schulterstücken und diesem lächerlichen Riemen quer über der Brust. Erika achtete diesmal darauf, ihn nur aus den Augenwinkeln zu beobachten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Hatte das Jungvolk denn gar keinen Dienst oder Appell oder wie die ihr lächerliches Herumgeschreie und -gestampfe nannten? Anscheinend nicht. Interessiert mich ja auch überhaupt nicht, dachte Erika und riss wütend an der nächstbesten Pflanze. Erschrocken stellte sie fest, dass sie eine Kartoffelstaude in der Hand hielt. Kleine Knollen hingen an den bleichen Wurzeln, richtige Kartoffelbabys, die jetzt nicht mehr groß werden würden. Die Erdklumpen dazwischen sahen bräunlich aus, wie der Torf, den Oma im Küchenherd verfeuerte und der so intensiv roch. Der Torf, der aus dem Moor kam.

      Und jetzt fiel es ihr wieder ein. Moor, das war das Wort. Mama hatte mit Oma geflüstert, nachdem einer von Vaters Freunden zu Besuch gewesen war, ganz kurz nur und sehr verstohlen, als dürfte Vater nichts von seiner Anwesenheit wissen. Aber Vater war gar nicht zu Hause gewesen, sondern in der Kaserne in Hamburg, wie meistens. Erika hatte hinter der Tür gestanden, hatte Mama flüstern gehört und Oma weinen. Moor. Moorlager. Und dann noch irgendwas mit Ems. Emsland?

      Erika drückte die Kartoffelbabys zurück in ihr Bett aus Erde, deckte sie vorsichtig zu. Ob das noch etwas nützen würde? Vielleicht nicht. Aber einfach nur nichts tun, das ging doch auch nicht!

      Ruckartig richtete Erika sich auf. Warum tat denn bloß keiner was? Sie wohnten hier doch dicht an der Ems, der Fluss war gleich da drüben, hinter dem Deich. Richtung Norden waren Ditzum, der Dollart und Emden, dahinter die Nordsee, und in der anderen Richtung lag das Emsland. So weit weg war das nicht, also musste es doch möglich sein, Opa zu finden! Aber es traute sich ja keiner, ihn zu suchen. Warum waren denn alle nur so feige?

      »He, Erika!« Plötzlich stand Stinus vor ihr wie aus dem Boden gewachsen. »Mensch, hast du gehört? Wir haben schon wieder Gold! Schon die achte Goldmedaille!« Er packte sie an den Oberarmen, als ob er mit ihr tanzen wollte, und begann herumzuhopsen. Erika aber stand stocksteif vor Überraschung, und weil sie fast einen Kopf größer war als Stinus, schaffte er es nicht, sie mitzureißen.

      Klar, in Berlin waren ja gerade Olympische Spiele, und Stinus’ Eltern hatten natürlich ein Radio. Erikas Vater hatte auch schon davon gesprochen, wenigstens einen Volksempfänger anzuschaffen, aber noch war daraus nichts geworden. So erfuhren sie immer erst einen Tag später von den Erfolgen der deutschen Athleten in Berlin, nämlich aus der Rheiderland-Zeitung. Erika fand das früh genug.

      »Na und?«, gab sie zurück und ruderte mit den Schultern, um Stinus’ Griff abzuschütteln. »So toll sind deine Helden auch nicht. Die werden ja nicht einmal mit diesem Neger fertig, diesem Jesse Owens. Von wegen Übermenschen!« Erika erschrak über ihre eigenen Worte, kaum dass sie ihr entschlüpft waren, getrieben von Ärger und von Zorn, der tiefere Ursachen hatte als bloß Stinus Plögers Dreistigkeit. Mit solchen Bemerkungen war nicht zu spaßen, das wusste sie, da durfte man schon eher den lieben Gott lästern. Wenn Stinus sie nun verpetzte?

      Aber der schien gar nicht richtig zugehört zu haben. »Ich mache jetzt regelmäßig Leibesübungen!«, verkündete er strahlend. »Das Fahrradfahren gehört auch dazu. Die richtigen Anlagen habe ich, sagt Herr Köster, und der war immerhin schon mal Riegenführer der deutschen Turnerauswahl! Wenn ich nur fleißig genug bin und an meiner Form arbeite, dann bin ich in acht Jahren auch mit dabei. Mensch, Erika, ist das nicht toll?«

      »Wo willst du dabei sein?« Erika schüttelte den Kopf. In acht Jahren – wer dachte denn schon so weit voraus? Dann waren sie beide einundzwanzig, also erwachsen. Stinus hatte dann sicher schon einen Beruf, und sie war bei irgendeiner Bauernfamilie in Stellung, den Haushalt führen und lernen für ihr künftiges Leben als Hausfrau und Mutter. Erika schauderte bei diesem Gedanken. Wenn man Pech hatte, dann waren diese Jahre beim Bauern eine einzige Tortur, das erzählten sich die älteren Mädchen im Dorf. Sieben Tage die Woche schuften, frei nur zur Kirche und über Weihnachten, und wenn der Bauer zudringlich wurde, durfte man noch nicht einmal den Mund aufmachen. Kein Wunder, dass viele Mädchen heirateten, sobald sich jemand fand, irgendwer, nur um dieser Schinderei zu entkommen! Nein, so weit mochte Erika nicht denken, noch nicht. An die Zukunft denken, das sollten ruhig die Jungs tun, die hatten davon sowieso mehr zu erwarten.

      »Na, wo will ich dann wohl sein? Bei den Olympischen Spielen!« Stinus warf sich in die magere Brust, was unter seinem weiten Jungvolk-Hemd nur zu erahnen war. »Turner oder Leichtathlet, kommt drauf an, wie viel ich wachse, sagt Herr Köster. Können tu ich beides! Bin ein richtiges Bewegungstalent.«

      Sportler bei Olympia! Das war so vermessen, dass Erika nicht einmal darüber lachen konnte. Und verglichen mit dem, was ihr selbst bevorstand, fand sie Stinus’ Hirngespinste sogar zum Heulen. »Wo sind denn die Spiele in acht Jahren überhaupt?«, fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

      Der kleine Pimpf zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Irgendwo halt. Wenn Deutschland bis dahin die Welt beherrscht, wie der Führer sagt, dann bestimmt wieder in Berlin. Wenn’s damit länger dauert, dann eben woanders. Ich schaffe es überall!«

      Und ehe Erika noch etwas erwidern konnte, hatte Stinus seine Hände an ihre Wangen gelegt, sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihr einen Kuss aufgedrückt. Auf den Mund! Erika stand starr vor Ekel und Entsetzen, während der kleine Pimpf lachend über die Ackerfurchen zu seinem Fahrrad rannte. Auch Oma lachte. Sie stand zwar weit entfernt, denn sie hatte sich inzwischen einen großen Vorsprung beim Jäten erarbeitet, aber den entscheidenden Augenblick hatte sie nicht verpasst. Schelmisch drohte sie mit dem Zeigefinger.

      Erika machte sich wieder an die Arbeit. In ihren Wangen pochte die Schamesröte. Mit jedem Rupfer aber ließ das Gefühl des Ekels nach. Immerhin, sie hatte ihren ersten Kuss bekommen. Zwar von Stinus, diesem Dreikäsehoch, dem sie das von allen ihren Klassenkameraden am wenigsten zugetraut hätte. Aber – wenn schon!

      Und je länger sie darüber nachdachte, desto interessanter kamen ihr die Möglichkeiten vor, die sich daraus ergeben mochten.

      Leise summend, begann sie den Vorsprung ihrer Oma aufzuholen, rhythmisch und gleichmäßig arbeitend wie eine Maschine. Erst nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, was sie da summte: Die Gedanken sind frei.

      3.

      »In diesem Sinne – nochmals alles Gute!« Wieder war eine Ansprache zu Ende, wieder wurden die Gläser erhoben, wurde vielmundig am Orangensaft oder am alkoholfreien Schaumwein genippt. Die Zeiten, als zu Verabschiedungen und anderen Feierlichkeiten in Polizeidienststellen noch Bier und Sekt in Strömen flossen, waren längst vorbei, und mit der verordneten Nüchternheit nahm man es in Leer äußerst genau. Lag es daran, dass ihm die ach so launigen Reden der Führungskräfte von Mal zu Mal banaler vorkamen? Hauptkommissar Stahnke sinnierte in seine Champagnerflöte hinein, ohne sich von der schalen, kaum noch prickelnden Flüssigkeit darin eine Antwort zu erhoffen.

      Dabei lag diese Antwort doch so nahe. Genau genommen lag sie nicht, sie stand – aber auf jeden Fall nahe. Zu nahe. Und wie es aussah, würde das auch so bleiben.

      Jetzt war Manninga an der Reihe; als guter Gastgeber hatte er hochrangigen Vertretern über- und nebengeordneter Dienststellen den Vortritt


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