H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Читать онлайн книгу.drei Schritte weit darauf gehen«, sagte Cavor, »selbst mit freien Händen nicht.«
Wir blickten uns mit heller Bestürzung in die langgezogenen Gesichter.
»Sie können nicht wissen, was es heißt, wenn einem schwindlig ist!«, sagte Cavor.
»Es ist für uns ganz unmöglich, über die Planke da zu gehen.«
»Ich glaube, sie sehen nicht wie wir. Ich habe sie beobachtet. Ich möchte wissen, ob sie wissen, dass dies für uns einfach schwarz ist. Wie können wir es ihnen begreiflich machen?«
»Einerlei, wie, wir müssen es ihnen begreiflich machen.«
Ich glaube, wir sagten diese Dinge mit einer unbestimmten Halbhoffnung, die Seleniten würden uns irgendwie verstehen. Ich wusste ganz klar, dass nichts nötig war als eine Erklärung. Dann sah ich ihre Gesichter, und erkannte, dass eine Erklärung unmöglich war. Gerade hier sollten unsere Ähnlichkeiten unsere Verschiedenheiten nicht überbrücken. Nun, auf jeden Fall wollte ich nicht über die Planke gehen. Ich zog sehr rasch das Handgelenk aus der gelockerten Kettenschlinge und begann dann die Handgelenke in entgegengesetzten Richtungen zu winden. Ich stand der Brücke am nächsten, und als ich dies tat, fassten mich zwei der Seleniten und zogen mich leicht darauf zu.
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nicht gehen«, sagte ich, »nichts nützen. Ihr versteht nicht.«
Ein dritter Selenit fügte seinen Druck hinzu. Ich war gezwungen, vorwärts zu gehen.
»Ich habe eine Idee«, sagte Cavor, aber ich kannte seine Ideen.
»Hört’ mal!«, rief ich den Seleniten zu. »Sachte voran! Das ist für euch alles recht schön und gut – –«
Ich sprang herum. Ich brach in Flüche aus. Denn einer der Seleniten hatte mich hinten mit seinem Stachel gestochen.
Ich rang meine Handgelenke aus den kleinen Tastern, die sie hielten, los. Ich wandte mich gegen den Stachelträger. »Zum Henker mit dir!«, schrie ich. »Davor hab’ ich euch gewarnt. Woraus in aller Welt meint ihr, dass ich bestehe, dass ihr mich stecht? Wenn ihr mich noch einmal berührt – –!«
Als Antwort stach er mich alsbald.
Ich hörte Cavors Stimme in Schreck und Bitte. Selbst da noch, glaube ich, wollte er mit diesen Geschöpfen verhandeln. »Hören Sie, Bedford«, rief er, »ich weiß einen Weg!« Aber der Stachel dieses zweiten Stichs schien eine eingedämmte Reserve von Energie in meinem Wesen freizumachen. Im Nu schnappte ein Glied der Handgelenkskette, und mit ihm schnappten alle Erwägungen, die uns widerstandslos in den Händen dieser Mondgeschöpfe festgehalten hatten. In dieser Sekunde wenigstens war ich rasend vor Furcht und Wut. Ich schlug dem Wesen mit dem Spieße gerade ins Gesicht hinein. Die Kette hatte ich um die Faust gewickelt …
Das gab wieder eine von den scheußlichen Überraschungen, von denen die Mondwelt voll ist.
Meine gepanzerte Hand schien einfach durch ihn durchzuschlagen. Er spritzte wie – wie irgendwelches weichliche Konfekt mit Likör darin auseinander! Er zerbrach einfach! Er zerquetschte und zerspritzte! Es war, wie wenn man feuchten Kuckucksspeichel trifft. Der zerbrechliche Rumpf flog ein Dutzend Meter weit und fiel mit schlottrigem Stoße auf. Ich war erstaunt. Es war nicht zu glauben, dass ein lebendes Wesen so nichtig sein konnte. Einen Moment hätte ich das Ganze für einen Traum halten können.
Dann war es wieder wirklich und unmittelbar. Weder Cavor noch die anderen Seleniten schienen von dem Moment an, als ich mich umgedreht hatte, bis zu dem Moment, als der tote Selenit den Boden traf, irgend etwas getan zu haben. Alle traten von uns beiden zurück, alle waren wach. Dieser Halt schien wenigstens eine Sekunde zu dauern, nachdem der Selenit schon lag. Sie müssen sich das alle erst klar gemacht haben. Mir ist, ich erinnere mich, wie ich mir die Sache gleichfalls klar machte. »Was nun?«, schrie mein Gehirn! »was nun?« Dann war im Nu alles in Bewegung.
Ich sah, wir mussten unsere Ketten los bekommen, und ehe wir dies tun konnten, mussten diese Seleniten abgeschlagen werden. Ich drehte mich zu der Gruppe der drei Stachelträger. Sofort warf einer seinen Spieß nach mir. Er schwirrte mir über den Kopf, und ich glaube, er flog in den Abgrund hinter mir.
Ich sprang mit aller Macht gerade auf ihn los, als der Spieß über mich wegflog. Er wandte sich zur Flucht, als ich sprang, und ich warf ihn zu Boden, trat auf ihn, glitt auf seinem zerschmetterten Körper aus und fiel. Er schien sich unter meinem Fuße zu winden.
Ich kam in sitzende Stellung, und auf allen Seiten flohen die blauen Rücken der Seleniten ins Dunkel. Ich bog gewaltsam ein Glied auseinander, wand die Kette los, die mich an den Knöcheln gehindert hatte und sprang auf die Füße, mit der Kette in der Hand. Noch ein Stachelspieß, der wie ein Speer geworfen wurde, pfiff an mir vorbei und ich machte einen Vorstoß gegen das Dunkel, aus dem er gekommen war. Dann wandte ich mich zu Cavor zurück, der noch im Lichte des Rinnsals an dem Abgrunde stand und sich krampfhaft mit seinen Handgelenken zu schaffen machte, während er zugleich Unsinn über seine Idee faselte.
»Kommen Sie!«, rief ich.
»Meine Hände!«, antwortete er.
Dann merkte er, dass ich nicht zu ihm zurückzulaufen wagen konnte, weil meine schlecht berechneten Schritte mich über den Rand hinaustragen konnten, und so kam er, die Hände vor sich ausgestreckt, zu mir gewackelt.
Ich packte sofort seine Ketten, um sie zu lösen.
»Wo sind sie?«, keuchte er.
»Weggelaufen. Sie werden zurückkommen. Sie werfen mit Spießen! Wohin sollen wir gehn?«
»Am Licht entlang. In den Tunnel da. Eh!«
»Ja«, sagte ich, und seine Hände waren frei.
Ich ließ mich auf die Knie fallen und begann an seinen Fußfesseln zu arbeiten. Schwapp, kam etwas – ich weiß nicht was – und zerspritzte das fahle Rinnsal zu Tropfen um uns. Weit rechts von uns begann ein Pfeifen und Zischen.
Ich riss ihm die Kette von den Füßen und gab sie ihm in die Hand. »Schlagen Sie damit!«, sagte ich, und ohne auf eine Antwort zu warten, lief ich in großen Sätzen den Pfad entlang, den wir gekommen waren. Ich hatte das scheußliche Gefühl, dass mir diese Wesen aus dem Dunkel heraus in den Rücken springen konnten. Den Stoß einiger Sprünge hörte ich mir folgen.
Wir liefen in weiten Sätzen. Aber dies Laufen, muss man verstehen, war etwas von irgendwelchem Laufen auf der Erde völlig verschiedenes. Auf die Erde springt man und trifft fast sofort wieder den Boden, aber auf dem Mond schoss man wegen seiner geringen Schwerkraft mehrere Sekunden lang durch die Luft, ehe man wieder zu Boden kam. Trotz unserer