H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

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H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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an, zu über­rascht, um spre­chen zu kön­nen.

      Er hielt ein wei­ßes Tuch – eine Ser­vi­et­te, die er mit­ge­bracht hat­te – vor den un­te­ren Teil sei­nes Ge­sichts, so­dass es Mund und Kinn­ba­cken ganz be­deck­te und die Stim­me nur halb er­stickt dar­aus her­vor­drang. Aber nicht das er­schreck­te Mrs. Hall, son­dern der Um­stand, dass ein wei­ßer Ver­band sei­ne gan­ze Stirn über den blau­en Glä­sern ver­hüll­te, wäh­rend ein zwei­ter die Ohren ver­barg und von sei­nem gan­zen Ge­sicht nichts als die spit­ze, rote Nase frei ließ. Die­se war leuch­tend rot und glänz­te wie bei sei­ner An­kunft. Er trug eine dun­kel­brau­ne Samt­ja­cke mit ei­nem ho­hen, schwar­zen, lei­nen­ge­füt­ter­ten Kra­gen, der in die Höhe ge­schla­gen war. Das dich­te schwar­ze Haar, das hie und da zwi­schen dem Kreuz­ver­band vor­lug­te, bil­de­te selt­sam ge­form­te Schwän­ze und Hör­ner und ver­lieh ihm das denk­bar merk­wür­digs­te Aus­se­hen … Die­ser ver­hüll­te und ver­bun­de­ne Kopf war dem, was sie er­war­tet hat­te, so un­ähn­lich, dass sie einen Au­gen­blick lang wie er­starrt da­stand. Er leg­te die Ser­vi­et­te nicht weg, son­dern hielt sie in der mit ei­nem brau­nen Hand­schuh be­klei­de­ten Hand fest, wo­bei er sei­ne Wir­tin durch die un­er­gründ­li­chen Au­genglä­ser hin­durch un­ver­wandt an­blick­te. »Las­sen Sie den Hut da«, wie­der­hol­te er un­deut­lich durch das wei­ße Tuch hin­durch.

      Ihre Ner­ven be­gan­nen sich von dem Schre­cken zu er­ho­len. Sie leg­te den Hut auf den Stuhl ne­ben dem Feu­er zu­rück. »Ich wuss­te nicht, mein Herr«, be­gann sie, »dass –« und sie schwieg ver­wirrt still.

      »Dan­ke«, sag­te er kurz, von ihr zur Tür und dann wie­der auf sie bli­ckend.

      »Ich will sie gleich schön trock­nen, mein Herr«, sag­te sie und trug sei­ne Klei­der aus dem Zim­mer. Wäh­rend sie zur Tür schritt, warf sie noch einen Blick nach dem weiß­ver­hüll­ten Kopf und den un­durch­sich­ti­gen Au­genglä­sern, aber er hielt sein Tuch noch im­mer vor das Ge­sicht. Es durch­schau­er­te sie ein we­nig, als sie die Tür hin­ter sich schloss, und in ih­rem Ge­sicht spie­gel­ten sich Über­ra­schung und Be­stür­zung wie­der. »Du mei­ne Güte«, flüs­ter­te sie. »So et­was!« Ganz sach­te ging sie in die Kü­che und war zu sehr mit ih­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt, um Mil­lie zu fra­gen, was sie jetzt wie­der in Un­ord­nung brin­ge.

      Der Gast saß ganz still und lausch­te auf die ver­hal­len­den Fuß­trit­te. Er warf einen for­schen­den Blick nach dem Fens­ter, ehe er die Ser­vi­et­te ent­fern­te und wie­der zu es­sen an­fing. Er nahm einen Bis­sen, blick­te miss­trau­isch nach dem Fens­ter – aß einen zwei­ten Bis­sen. Dann er­hob er sich, ging mit der Ser­vi­et­te in der Hand quer durchs Zim­mer und ver­hüll­te den obe­ren Teil der Fens­ter bis da­hin, wo wei­ße Vor­hän­ge über das Glas ge­spannt wa­ren, wor­auf das Zim­mer in Däm­mer­licht ge­taucht schi­en, und er mit er­leich­ter­ter Mie­ne zum Tisch und sei­nem Mahl zu­rück­kehr­te.

      »Der arme Mensch hat einen Un­fall er­lit­ten oder eine Ope­ra­ti­on oder so et­was durch­ge­macht«, dach­te Mrs. Hall. »Nein, wie mich die­ser Ver­band er­schreckt hat.«

      Sie leg­te fri­sche Koh­len auf, mach­te den Klei­der­stock frei und brei­te­te den Rock des Rei­sen­den dar­über. »Und die­se Bril­le! Er sieht gar nicht wie ein leib­haf­ti­ger Mensch aus.« Sie häng­te sein Hals­tuch auf den Klei­der­stän­der. »Und die gan­ze Zeit hat­te er das Tuch vor dem Mun­de und sprach durch das Tuch durch! – – Vi­el­leicht hat er auch am Mun­de Ver­let­zun­gen. Wahr­schein­lich so­gar!«

      Sie wand­te sich um, wie je­mand, der sich plötz­lich an et­was er­in­nert. »Gott sei mei­ner See­le gnä­dig!«, rief sie. »Bist du mit den Kar­tof­feln noch nicht fer­tig, Mil­lie?«

      Als Mrs. Hall das Früh­stück des Frem­den weg­räum­te, wur­de sie in ih­rer Ver­mu­tung, dass auch sein Mund durch einen Un­fall ver­letzt oder ent­stellt wor­den war, be­stärkt. Denn, ob­wohl er sei­ne Pfei­fe rauch­te, ent­fern­te er doch wäh­rend der gan­zen Zeit, die sie im Zim­mer zu­brach­te, auch nicht ein ein­zi­ges Mal das sei­de­ne Hals­tuch, wel­ches er um den un­te­ren Teil des Ge­sich­tes ge­schlun­gen hat­te, um das Mund­stück der Pfei­fe an die Lip­pen zu füh­ren. Doch ge­sch­ah dies nicht aus Ver­ge­ss­lich­keit, denn sie sah ihn nach der Pfei­fe schie­len, aus der der Rauch im­mer schwä­cher em­por­stieg. Er saß in der Ecke, mit dem Rücken ge­gen das ver­dun­kel­te Fens­ter, und sprach nun, nach­dem er ge­ges­sen und ge­trun­ken hat­te und be­hag­lich durch­wärmt war, in we­ni­ger ver­let­zen­der Kür­ze als zu­vor. Der Wi­der­schein des Feu­ers ver­lieh sei­ner un­ge­heu­ren Bril­le ein ge­wis­ses Le­ben, das ihr bis­her ge­fehlt hat­te.

      »Ich habe et­was Ge­päck auf der Sta­ti­on in Bramb­le­hurst«, sag­te er und frag­te sie, wie er es ho­len las­sen kön­ne. Ganz höf­lich neig­te er das ver­bun­de­ne Haupt zum Dan­ke für ihre Er­klä­rung. »Mor­gen!«, sag­te er. »Kann es nicht frü­her sein?«, und schi­en ent­täuscht, als sie ver­nein­te. »Ob sie des­sen ganz si­cher sei? Könn­te es nicht je­mand mit ei­nem Hand­wa­gen ab­ho­len?«

      Be­reit­wil­lig be­ant­wor­te­te Mrs. Hall sei­ne Fra­gen und such­te hier­auf ein Ge­spräch in Gang zu brin­gen. »An der Düne läuft die Stra­ße steil hin­ab, mein Herr«, er­klär­te sie in Beant­wor­tung sei­ner Fra­ge be­züg­lich des Hand­wa­gens. Dann füg­te sie, froh einen An­knüp­fungs­punkt ge­fun­den zu ha­ben, hin­zu: »Vor ei­nem Jahr oder noch län­ger warf dort ein Wa­gen um, ein Rei­sen­der und der Kut­scher blie­ben tot. Ein Un­glück ge­schieht oft im Handum­dre­hen, nicht wahr?«

      Aus dem Frem­den war je­doch nicht so leicht et­was her­aus­zu­brin­gen. »Das stimmt«, sag­te er hin­ter dem Tuch her­vor, Mrs. Hall durch die un­durch­dring­li­chen Au­genglä­ser un­ver­wandt be­trach­tend.

      »Aber die Hei­lung dau­ert zu­wei­len gar lang, nicht wahr? Mein Schwes­ter­sohn schnitt sich mit der Sen­se in den Arm – er stol­per­te näm­lich im Heu über sie – und muss­te wahr­haf­tig vol­le drei Mo­na­te in ei­nem Gips­ver­band lie­gen. Sie wer­den es kaum glau­ben. Seit­her habe ich einen hei­li­gen Schreck, wenn ich eine Sen­se zu Ge­sicht be­kom­me.«

      »Das kann ich ganz gut ver­ste­hen«, sag­te der Frem­de.

      »Wir fürch­te­ten eine Zeit lang, dass er ope­riert wer­den müs­se, so schlimm stand es mit ihm.«

      Der Gast lach­te kurz auf – ein bel­len­des La­chen, das er im Mun­de zu kau­en schi­en. »Wirk­lich?«, frag­te er.

      »Ganz ge­wiss, mein Herr. Und für die­je­ni­gen, die ihn pfle­gen muss­ten, wie ich – mei­ne Schwes­ter hat­te mit ih­ren Klei­nen so viel zu tun – war nichts zu la­chen da­bei. Ver­bän­de an­le­gen und Ver­bän­de ab­neh­men – so, wenn ich mir die Frei­heit neh­men darf, es zu sa­gen, mein Herr –.«

      »Wol­len Sie mir Zünd­hölz­chen brin­gen«, un­ter­brach sie der Frem­de un­ver­mit­telt. »Mei­ne Pfei­fe ist aus­ge­gan­gen.«

      Mrs. Hall ver­stumm­te. Eine sol­che Takt­lo­sig­keit, wäh­rend sie ihm so­eben er­zähl­te, was sie al­les ge­tan hat­te. Sie hat­te schon den Mund zu ei­ner schar­fen Ent­geg­nung ge­öff­net, als sie sich noch recht­zei­tig der bei­den Gold­stücke er­in­ner­te und nach den Zünd­höl­zern ging.

      »Dan­ke«, sag­te er mit un­höf­li­cher Kür­ze, als sie die Schach­tel nie­der­stell­te, dreh­te ihr den Rücken und starr­te wie­der zum Fens­ter hin­aus. Das Ge­spräch über Ope­ra­tio­nen und


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