H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Читать онлайн книгу.Sie sich nicht um das, was Sie dargetan haben!«, sagte die Stimme. »Ich bin halb verhungert und fühle die Kälte der Nacht sehr, da ich keine Kleider anhabe.«
»Sie wollen etwas zu essen?«, fragte Kemp.
Das Glas Whisky neigte sich von selbst. »Ja«, sagte der Unsichtbare, es niederstellend. »Haben Sie einen Schlafrock?«
Mit einem halblauten Ausruf ging Kemp auf einen Schrank zu und nahm einen dunkelroten Schlafrock heraus. »Genügt Ihnen dieser?«, fragte er. Er wurde ihm weggenommen. Einen Augenblick hing das Kleidungsstück schlaff in der Luft, flatterte geheimnisvoll auf, dann stand es rund und ausgefüllt vor ihm, knöpfte sich zu und nahm auf einem Stuhl Platz.
»Unterhosen, Socken, Schuhe wären eine Wohltat für mich«, sagte der Unsichtbare kurz. »Und etwas zu essen.«
»Soviel Sie wollen. Aber das ist das Tollste, was ich je erlebt habe!«
Er zog die verlangten Kleidungsstücke aus den Schubladen hervor und ging dann hinunter, um seine Speisekammer zu plündern. Er kam mit einigen kalten Koteletts und etwas Brot zurück, schob einen leichten Tisch heran und forderte seinen Gast auf, zuzugreifen.
»Messer sind unnötig«, sagte dieser; ein Kotelett hing in der Luft und man hörte kauen.
»Ich habe immer gern etwas an, bevor ich esse«, sagte der Unsichtbare mit vollem Munde, gierig essend. »Eine seltsame Laune.«
»Ihr Gelenk ist doch gut verbunden?«, fragte Kemp. »Darüber können Sie ruhig sein«, versetzte der Unsichtbare.
»Von allem, was merkwürdig und wunderbar ist – –«
»Ja, ja. Aber es ist komisch, dass ich in Ihrem Hause nach einem Verband suchen musste. Mein allererster Glücksfall! Jedenfalls hatte ich die Absicht, heute Nacht in diesem Hause zu schlafen. Sie müssen sich das schon gefallen lassen! Höchst unangenehm, dass mein Blut sichtbar ist, nicht wahr? Dort drüben ist eine ganze Lache. Wenn es gerinnt, wird es sichtbar, wie ich sehe. Ich habe nur das lebendige Zellengewebe verändert, und nur solange Leben in mir ist – – – Ich bin seit drei Stunden im Hause.«
»Aber, wie bewirkten Sie das?«, begann Kemp in dem Tone der Verzweiflung. »Zum Teufel! Die ganze Geschichte ist widersinnig – von Anfang bis zu Ende.«
»Sie ist ganz erklärlich«, erwiderte der Unsichtbare. »Vollkommen erklärlich!«
Er beugte sich vor und griff nach der Flasche. Kemp starrte auf den sich bewegenden Schlafrock. Ein Lichtstrahl von der Kerze, der durch einen Riss in der rechten Schulter drang, zeigte einen dreieckigen Lichtfleck an der Stelle, wo die linken Rippen hätten sein sollen.
»Was waren das für Schüsse?«, fragte er. »Wie begann das Schießen?«
»Es ist da ein Narr von einem Menschen – eine Art Verbündeter von mir, Gott verdamm’ ihn! – der mein Geld zu stehlen versuchte. Er hat es auch gestohlen!«
»Ist er auch unsichtbar?«
»Nein.«
»Nein, und?«
»Kann ich nicht noch etwas zu essen haben, bevor ich Ihnen alles das erzähle? Ich bin hungrig und habe Schmerzen. Und Sie verlangen, dass ich Ihnen Geschichten erzähle!«
Kemp stand auf. »Sie haben nicht geschossen?«, fragte er.
»Ich nicht«, erwiderte der Gast. »Irgendein Narr, den ich meiner Lebtag nicht gesehen habe, feuerte aufs Geratewohl. Ein paar von ihnen, Gott verdamme sie, habe ich ordentlich gezeichnet. – Ich muss noch mehr zu essen haben, Kemp.«
»Ich will sehen, ob ich unten noch etwas finde«, sagte Kemp. »Es wird nicht viel sein, fürchte ich.«
Als der Unsichtbare gegessen hatte – und er hielt eine tüchtige Mahlzeit – verlangte er eine Zigarre. Noch bevor Kemp ein Messer finden konnte, hatte er ungeduldig die Spitze abgebissen und fluchte, als das äußere Deckblatt sich loslöste.
Es war seltsam, ihn rauchen zu sehen: Mund und Kehle, Nase und Schlund wurden als eine Art rauchender Schornstein sichtbar.
»Rauchen ist eine Gottesgabe«, sagte er, dichte Rauchwolken ausstoßend. »Es war ein Glück für mich, dass ich gerade auf Sie stieß, Kemp. Sie müssen mir helfen! Wie sonderbar, dass ich gerade zu Ihnen kam! Ich bin in einer verteufelten Klemme – rein verrückt war ich – glaube ich. Was ich durchgemacht habe! Aber wir werden noch Großes vollbringen, sage ich Ihnen.«
Er nahm noch mehr Whisky und Soda. Kemp erhob sich, blickte sich um und holte sich ein Glas aus dem Nebenzimmer.
»Es ist rein unfassbar – aber trinken möchte ich deshalb doch.«
»Sie haben sich in den letzten zwölf Jahren nicht sehr verändert, Kemp. Blonde Leute bleiben sich immer gleich. Kühl und methodisch. – Ich sage Ihnen, wir werden zusammen arbeiten!«
»Aber wie ist das alles gekommen?«, fragte Kemp, »und wie haben Sie’s angefangen?«
»Lassen Sie mich um Gottes willen ein Weilchen in Frieden rauchen, dann will ich erzählen.«
Aber die Geschichte wurde an jenem Abend nicht mehr erzählt. Das Armgelenk bereitete dem Unsichtbaren arge Schmerzen. Er fieberte und begann über seine Jagd den Hügel hinab und den Kampf im Wirtshaus nachzubrüten. Er fing seine Erzählung an, um gleich wieder abzuschweifen. In abgerissenen Sätzen sprach er von Marvel; er rauchte immer schneller und seine Stimme wurde immer zorniger. Kemp suchte aus seinen Worten aufzufangen, soviel er konnte.
»Er fürchtete sich vor mir – ich sah, dass er sich vor mir fürchtete«, wiederholte der Unsichtbare immer wieder. »Er wollte mir entwischen – er dachte nur immer an Flucht. Welch ein Narr ich war! – Der Hund! – Ich war wütend. Ich hätte ihn töten sollen – –«
»Woher nahmen Sie das Geld?«, fragte Kemp plötzlich.
Der Unsichtbare schwieg eine geraume Zeit. »Ich kann es Ihnen heute nicht sagen.«
Er stöhnte plötzlich auf und lehnte sich nach vorn, sein unsichtbares Haupt in unsichtbare Hände stützend.
»Kemp«, sagte er, »ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen – kaum eine Stunde hie und da genickt. Ich muss schlafen, und das bald.«
»Gut, Sie können mein Zimmer haben – dieses Zimmer.«
»Aber wie kann ich schlafen? Wenn ich schlafe, entwischt er mir. Bah! Was liegt daran?«
»Was ist es mit Ihrer Schusswunde?«, fragte Kemp.
»Nichts. Eine blutige Schramme. O Gott! Wie ich mich nach Schlaf sehne!«
»Warum