H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

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H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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Ta­schen sei­nes An­zu­ges.

      Er war bei­na­he eine Stun­de so dort ge­ses­sen, als ein ält­li­cher Ma­tro­se mit ei­ner Zei­tung in der Hand aus dem Wirts­haus kam und sich ne­ben ihm nie­der­ließ.

      »Ein schö­ner Tag«, be­merk­te der Ma­tro­se.

      Mr. Mar­vel sah sich ängst­lich um. »Sehr«, sag­te er.

      »Gera­de das rich­ti­ge Wet­ter für die­se Jah­res­zeit«, fuhr der Ma­tro­se mit großer Be­stimmt­heit fort.

      »Ge­wiss«, ent­geg­ne­te Mr. Mar­vel.

      Der Ma­tro­se zog einen Zahn­sto­cher her­vor und be­schäf­tig­te sich (mit Er­laub­nis) ei­ni­ge Mi­nu­ten mit dem­sel­ben. In­zwi­schen hat­ten sei­ne Au­gen vol­le Frei­heit, Mr. Mar­vels staub­be­deck­tes Ge­sicht und die Bü­cher ne­ben ihm zu be­trach­ten. Als er sich ihm ge­nä­hert hat­te, hat­te er einen Ton ge­hört, wie wenn Geld­stücke in ei­ner Ta­sche klim­pern. Der Ge­gen­satz zwi­schen der äu­ße­ren Er­schei­nung Mar­vels und die­sem Zei­chen von Wohl­ha­ben­heit fiel ihm auf. Dann wan­der­ten sei­ne Ge­dan­ken wie­der zu ei­nem Ge­gen­stan­de zu­rück, der sei­nen Geist in ho­hem Gra­de be­schäf­tig­te.

      »Bü­cher?«, sag­te er end­lich, den Zahn­sto­cher ge­räusch­voll aus dem Mun­de neh­mend.

      Mr. Mar­vel blick­te er­schro­cken auf die Bü­cher. »O, ja«, sag­te er. »Das sind Bü­cher.«

      »Es ste­hen manch­mal merk­wür­di­ge Din­ge in den Bü­chern«, sag­te der Ma­tro­se.

      »Da ha­ben Sie recht«, er­wi­der­te Mr. Mar­vel.

      »Und es gibt auch sonst merk­wür­di­ge Din­ge«, mein­te der Ma­tro­se.

      »Auch das ist rich­tig«, ent­geg­ne­te Mr. Mar­vel. Er blick­te den Spre­cher an und schau­te sich dann um.

      »Es ste­hen merk­wür­di­ge Din­ge zum Bei­spiel in den Zei­tun­gen«, fuhr ers­te­rer fort.

      »So ist es.«

      »In die­ser Zei­tung«, sag­te der Ma­tro­se.

      »Ah!«, sag­te Mr. Mar­vel.

      »Da steht eine Ge­schich­te«, fuhr der Ma­tro­se fort, Mar­vel mit nach­denk­li­cher Auf­merk­sam­keit be­trach­tend. »Da steht zum Bei­spiel eine Ge­schich­te von ei­nem un­sicht­ba­ren Men­schen.«

      Mr. Mar­vel ver­zog den Mund, kratz­te sich auf dem Kop­fe und fühl­te, wie sei­ne Ohren zu glü­hen be­gan­nen. »Was wer­den sich die Leu­te nächs­tens aus­den­ken?«, frag­te er zag­haft. »Wo denn, in Ame­ri­ka oder Aus­tra­li­en?«

      »Kei­nes von bei­den«, ant­wor­te­te der Ma­tro­se. »Hier

      »Herr­gott!«, rief Mr. Mar­vel zu­sam­men­fah­rend.

      »Wenn ich sage hier«, er­klär­te der Ma­tro­se zu Mr. Mar­vels un­ge­heu­rer Er­leich­te­rung, »so mei­ne ich na­tür­lich nicht in die­sem Orte, son­dern hier in der Ge­gend.«

      »Ein un­sicht­ba­rer Mensch!«, rief Mr. Mar­vel.

      »Und was tut er denn?«

      »Al­les«, er­wi­der­te der Ma­tro­se, Mar­vel scharf be­ob­ach­tend, und er­klär­te dann: »Al­les – al­les – mög­li­che.«

      »Ich habe seit vier Ta­gen kei­ne Zei­tung in der Hand ge­habt«, sag­te Mar­vel.

      »In Iping fing es an«, er­zähl­te der Ma­tro­se.

      »Wirk­lich!«, sag­te Mar­vel.

      »Dort tauch­te er auf. Wo­her er kam, scheint nie­mand zu wis­sen. Hier steht es: ›Selt­sa­me Er­eig­nis­se in Iping!‹ Und das Blatt sagt, dass voll­kom­men ver­läss­li­che Aus­sa­gen vor­lie­gen, die ganz un­an­fecht­bar sind.«

      »Herr­gott!«, sag­te Mr. Mar­vel.

      »Aber es ist auch eine ganz un­ge­wöhn­li­che Ge­schich­te. Ein Pfar­rer und ein Dok­tor sind Zeu­gen – sa­hen ihn ganz ge­nau – oder viel­mehr sa­hen ihn nicht. Er hat, heißt es, im ›Fuhr­mann‹ ge­wohnt und nie­mand scheint von sei­nem Un­glück ge­wusst zu ha­ben, heißt es, bis die Ver­bän­de von sei­nem Kopf her­un­ter­ge­ris­sen wur­den. Das ge­sch­ah bei ei­nem Streit im Wirts­haus, heißt es. Da be­merk­te man, dass sein Kopf un­sicht­bar war. So­fort wur­den Maß­nah­men ge­trof­fen, ihn fest­zu­neh­men, aber er warf sei­ne Klei­der ab, heißt es, und es ge­lang ihm zu ent­kom­men, nach­dem er, heißt es, in ei­nem ver­zwei­fel­ten Kamp­fe un­se­rem all­ge­mein be­lieb­ten und tüch­ti­gen Gen­darmen, Mr. I.A. Jaf­fers, meh­re­re schwe­re Ver­let­zun­gen bei­ge­bracht hat­te … Die Ge­schich­te hat doch Hand und Fuß, nicht? Na­men und al­les.«

      »Herr­gott!«, sag­te Mr. Mar­vel, ner­vös nach al­len Sei­ten bli­ckend, wo­bei er ver­such­te, das Geld in sei­nen Ta­schen ins­ge­heim zu zäh­len, und von ei­nem selt­sa­men neu­en Ge­dan­ken er­füllt. »Das klingt wahr­haf­tig er­staun­lich.«

      »Nicht wahr? Ganz au­ßer­or­dent­lich nen­ne ich es. Ich habe nie vor­her et­was von ei­nem un­sicht­ba­ren Men­schen ge­hört, nie­mals, aber heut­zu­ta­ge hört man von ei­ner so er­staun­li­chen Men­ge von merk­wür­di­gen Din­gen – dass – –«

      »Hat er sonst nichts ge­tan?«, frag­te Mar­vel und ver­such­te da­bei ge­las­sen aus­zu­se­hen.

      »Ist das nicht ge­nug?«, mein­te der Ma­tro­se.

      »Ist er nicht viel­leicht zu­rück­ge­kom­men?«, frag­te Mar­vel. »Er ent­wisch­te nur, und sonst ge­sch­ah nichts?«

      »Nichts!«, er­wi­der­te der Ma­tro­se. »Ist denn das nicht ge­nug?«

      »Voll­kom­men ge­nug«, be­stä­tig­te Mar­vel.

      »Ich däch­te, das wäre ge­nug«, sag­te der Ma­tro­se. »Ich däch­te, das wäre über­reich­lich ge­nug.«

      »Er hat kei­ne Hel­fer ge­habt – es steht nichts von Hel­fern, nicht wahr?«, frag­te Mr. Mar­vel ängst­lich.

      »Ge­nügt Ih­nen ei­ner von der Sor­te nicht?«, frag­te der Ma­tro­se. »Nein, er war, Gott sei Dank muss man wohl sa­gen, al­lein.«

      Er nick­te lang­sam mit dem Kop­fe. »Schon der Ge­dan­ke, dass die­ser Kerl die Ge­gend un­si­cher macht, stimmt mich un­be­hag­lich! – – Er ist jetzt frei, und man hat Ur­sa­che, an­zu­neh­men, dass er den Weg nach Port Sto­we ein­ge­schla­gen hat. – Sie se­hen, wir ste­cken mit­ten drin! Dies­mal ist es kei­ne ame­ri­ka­ni­sche Räu­ber­ge­schich­te. Und wenn man be­denkt, was er al­les tun kann! Was wür­den Sie an­fan­gen, wenn er einen Trop­fen über den Durst ge­trun­ken hät­te, und es ihm ein­fie­le, mit Ih­nen Hän­del zu su­chen? An­ge­nom­men, dass er steh­len woll­te – wer könn­te ihn hin­dern? Er kann rau­ben, er kann ein­bre­chen, er kann eben so si­cher durch eine Ket­te von Po­li­zei­leu­ten kom­men, als Sie oder ich einen Blin­den er­wi­schen könn­ten! Noch leich­ter und si­che­rer! Denn die Blin­den ha­ben un­ge­wöhn­lich schar­fe Sin­ne, habe ich mir sa­gen las­sen. Und wenn er – – –« »Er ist ge­wal­tig im Vor­teil, na­tür­lich«, sag­te Mr. Mar­vel. »Und – se­hen Sie.«

      »Ge­wal­tig im Vor­teil«, be­stä­tig­te der Ma­tro­se.

      Die gan­ze Zeit über hat­te Mr.


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