H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

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H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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      Es ist dies je­doch eine blo­ße Hy­po­the­se. Die ein­zi­ge un­leug­ba­re Tat­sa­che – denn was Kin­der er­zäh­len, ist häu­fig we­nig zu­ver­läs­sig – ist die Ent­de­ckung von Wicks­teeds Leich­nam und der blu­ti­gen Ei­sen­stan­ge, die in den Bren­nes­seln lag. Dass Grif­fin die Ei­sen­stan­ge weg­warf, lässt auf die Ver­mu­tung kom­men, dass er – in der Ge­müt­s­er­re­gung je­nes Er­eig­nis­ses – die Ab­sicht, in der er sie an sich ge­ris­sen hat­te – wenn über­haupt eine be­stimm­te Ab­sicht vor­lag – auf­gab. Ge­wiss war er ein un­end­lich selbst­süch­ti­ger und ge­fühl­lo­ser Mensch; aber der An­blick sei­nes Op­fers, sei­nes ers­ten Op­fers, das da blu­tend und jam­mer­voll zu sei­nen Fü­ßen lag, mag doch eine lang zu­rück­ge­dämm­te Quel­le von Ge­wis­sens­bis­sen ent­fes­selt ha­ben, die, we­nigs­tens vor­über­ge­hend, alle Plä­ne, die er vor­ge­habt hat­te, weg­schwemm­te.

      Nach die­sem Mord scheint er das Land in der Rich­tung ge­gen die Düne durch­wan­dert zu ha­ben. Ei­ni­ge Leu­te wis­sen von ei­ner Stim­me zu er­zäh­len, die sie auf ei­nem Feld in der Nähe von Fern-Bot­tom hör­ten. Sie wein­te und lach­te, seufz­te und stöhn­te, und hie und da hör­te man einen wil­den Schrei. Hin­ter ei­nem Ber­ge ver­hall­te sie.

      In der Zwi­schen­zeit muss der Un­sicht­ba­re ge­wahr ge­wor­den sein, welch schnel­len Ge­brauch Kemp von sei­nen ver­trau­li­chen Mit­tei­lun­gen ge­macht hat­te. Er muss die Häu­ser ver­sperrt und be­fes­tigt ge­fun­den ha­ben, er mag nach den Ei­sen­bahn­sta­tio­nen und Wirts­häu­sern ge­schli­chen sein, wo er zwei­fel­los die Be­kannt­ma­chung las und sich über die Na­tur des Feld­zu­ges, den man ge­gen ihn führ­te, klar wur­de. Und wie der Abend her­ein­brach, tauch­ten hie und da auf den Fel­dern Grup­pen von drei oder vier Män­nern, in Beglei­tung von kläf­fen­den Hun­den, auf. Die­se Jä­ger hat­ten für den Fall ei­ner Be­geg­nung mit ihm be­son­de­re Wei­sun­gen er­hal­ten, wie sie ein­an­der bei­ste­hen könn­ten. Aber er wich ih­nen al­len aus. Wir kön­nen sei­ne Verzweif­lung be­grei­fen, und sie mag durch das Be­wusst­sein, dass er selbst die Hand­ha­be zu ei­ner so grau­sa­men Jagd ge­gen sich ge­bo­ten hat­te, nicht ver­rin­gert wor­den sein. Ei­nen Tag lang ver­lor er den Mut; durch vier­und­zwan­zig Stun­den war er au­ßer im Kampf ge­gen Wicks­teed wie ein ge­hetz­tes Wild. In der Nacht muss er ge­ges­sen und ge­schla­fen ha­ben, denn am Mor­gen war er wie­der er selbst, tä­tig, ener­gisch, rach­süch­tig und be­reit, sei­nen letz­ten großen Kampf ge­gen die Welt auf­zu­neh­men.

      27. Kapitel – Die Belagerung von Kemps Haus

      Kemp las eine selt­sa­me Bot­schaft, die mit Blei­stift auf ein fet­ti­ges Blatt Pa­pier ge­schrie­ben war.

      »Sie sind er­staun­lich ener­gisch und klug ge­we­sen«, lau­te­te der Brief, »ob­gleich ich mir nicht den­ken kann, was Sie da­durch ge­win­nen wol­len. Sie sind also ge­gen mich. Ei­nen gan­zen Tag lang ha­ben Sie mich ge­jagt, Sie ha­ben ver­sucht, mich um die Nachtru­he zu brin­gen. Aber Ih­nen zum Trotz habe ich ge­ges­sen, Ih­nen zum Trotz habe ich ge­schla­fen und das Spiel be­ginnt erst. Es fehlt nichts, als die Schre­ckens­herr­schaft an­zu­kün­di­gen. Die­se mei­ne Bot­schaft kün­digt den ers­ten Tag an. Port Bur­dock un­ter­steht nicht län­ger der Kö­ni­gin, sa­gen Sie das Ihrem Po­li­zei­haupt­mann und den üb­ri­gen. Es un­ter­steht mir – dem Herrn des Schre­ckens. Dies ist der ers­te Tag des ers­ten Jah­res der neu­en Ära – der Ära des Un­sicht­ba­ren. Ich bin Kö­nig Un­sicht­bar der Ers­te. Am ers­ten Tag wird die Herr­schaft leicht zu er­tra­gen sein. Da wird nur eine Hin­rich­tung vor­ge­nom­men wer­den, um ein Exem­pel zu sta­tu­ie­ren – an ei­nem Man­ne na­mens Kemp. Der Tod harrt heu­te sei­ner. Er mag sich ein­schlie­ßen, sich mit Wa­chen um­ge­ben, eine Rüs­tung an­le­gen, wenn es ihm be­liebt – der Tod, der un­sicht­ba­re Tod, kommt her­an. Er mag Vor­sichts­maß­re­geln er­grei­fen, es wird nur umso grö­ße­ren Ein­druck auf mein Volk ma­chen. Das Spiel be­ginnt. Der Tod ist auf dem Wege. Helft ihm nicht, mei­ne Un­ter­ta­nen, sonst seid ihr selbst dem Tode ver­fal­len. Heu­te wird Kemp ster­ben!«

      »Es ist kein Scherz«, sag­te Kemp, als er den Brief zwei­mal ge­le­sen hat­te, »das ist sei­ne Schrift, und was er sagt, das meint er auch.«

      Er dreh­te das ge­fal­te­te Blatt um, und sah auf der Adres­se den Post­stem­pel von Hin­ton­de­an und die pro­sa­i­sche Be­mer­kung: »Zwei Pence Straf­por­to.«

      Er er­hob sich lang­sam, ließ sein Früh­stück un­be­en­digt und ging in das Stu­dier­zim­mer. Dann ließ er sei­ne Wirt­schaf­te­rin kom­men und be­fahl ihr, so­fort die Run­de im Hau­se zu ma­chen, alle Fens­ter­rie­gel zu un­ter­su­chen und die Lä­den zu schlie­ßen. Die Fens­ter sei­nes Stu­dier­zim­mers schloss er selbst. Aus ei­nem ab­ge­sperr­ten Fach in sei­nem Schlaf­zim­mer nahm er einen klei­nen Re­vol­ver, un­ter­such­te ihn sorg­fäl­tig und steck­te ihn in die Ta­sche sei­nes Rockes. Er schrieb ei­ni­ge kur­ze Brie­fe, einen da­von an Oberst Adye, und gab sie dem Haus­mäd­chen zur Be­sor­gung mit ge­nau­en Wei­sun­gen, wie sie das Haus ver­las­sen sol­le. »Es hat kei­ne Ge­fahr«, sag­te er und füg­te in sei­nem In­nern hin­zu: »für sie.« Ein Weil­chen blieb er nach­denk­lich sit­zen, dann kehr­te er zu sei­nem kalt ge­wor­de­nen Früh­stück zu­rück.

      Oft un­ter­brach ein neu­er Ein­fall sei­ne Mahl­zeit. End­lich schlug er hef­tig auf den Tisch. »Wir wer­den ihn fan­gen!«, sag­te er, »und ich bin der Kö­der. Er wird sich zu weit vor­wa­gen.«

      Er ging in sein Stu­dier­zim­mer hin­auf, sorg­sam die Tü­ren hin­ter sich schlie­ßend. »Es ist ein Spiel«, sag­te er, »ein auf­re­gen­des Spiel; aber die Trümp­fe sind in mei­ner Hand, Mr. Grif­fin, trotz Ih­rer Kühn­heit. Grif­fin con­tra mund­um …«

      Er stand am Fens­ter und blick­te auf den Hü­gel hin­aus. »Er muss sich je­den Tag Spei­se ver­schaf­fen – und ich miss­gön­ne es ihm nicht. Ob er heu­te Nacht wirk­lich ge­schla­fen hat? Drau­ßen im Frei­en wahr­schein­lich, si­cher vor je­der Be­geg­nung. Wenn nur recht kal­tes, nas­ses Wet­ter statt die­ser Hit­ze kom­men woll­te!

      Vi­el­leicht be­ob­ach­tet er mich eben jetzt …«

      Er trat ganz nahe ans Fens­ter her­an. Et­was schlug an das Mau­er­werk über dem Fens­ter und ließ ihn hef­tig zu­rück­fah­ren.

      »Ich wer­de ner­vös«, sag­te Kemp. Aber es dau­er­te fünf Mi­nu­ten, ehe er wie­der ans Fens­ter ging. »Wahr­schein­lich ein Sper­ling«, mein­te er.

      Bald dar­auf wur­de die Haus­glo­cke ge­zo­gen und er eil­te hin­un­ter. Er schob die Rie­gel am Tor zu­rück, dreh­te den Schlüs­sel um, un­ter­such­te die Ket­te und öff­ne­te vor­sich­tig, ohne sich zu zei­gen. Eine wohl­be­kann­te Stim­me rief ihn an. Es war Adye. »Ihr Mäd­chen ist an­ge­grif­fen wor­den, Kemp«, sag­te er durch die Tür.

      »Was?«, rief Kemp.

      »Man hat ihr den Brief weg­ge­nom­men. Er ist ganz in der Nähe. Las­sen Sie mich hin­ein.«

      Kemp lös­te die Ket­te und Adye trat durch eine ganz schma­le Spal­te ein. Er stand in der Hal­le und blick­te mit un­end­li­cher Er­leich­te­rung auf Kemp, der das Tor wie­der ver­sperr­te. »Der Brief wur­de ihr aus der Hand ge­ris­sen. Es hat sie furcht­bar auf­ge­regt. Sie liegt in Krämp­fen. Er ist ganz in der Nähe. Was woll­ten Sie mir schrei­ben?«

      Kemp fluch­te.

      »Was für ein Narr ich war«, sag­te


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