Let´s play love: Leon. Hanna Nolden
Читать онлайн книгу.tun als ob«.
»Verstehe«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme die Festigkeit von Eis zu geben. »Nun, dann werde ich mal mein Bestes geben, selbst wieder auf Kurs zu kommen. Ich bin schon voll dabei. Ich nutze den Laptop eigentlich gar nicht mehr. Ich habe ihn in meinen Kleiderschrank gelegt, wo ich ihn nicht ständig sehen muss. Ich habe mich mit meiner besten Freundin vertragen. Und ich habe am Samstag mein Team besucht. Ich habe sogar den blöden Dirk Ahlfeld dort getroffen und wissen Sie was: es war mir egal. Es passt mir zwar nicht, dass er dort rumhängt und einen auf Trainerassistent macht, aber es war mir egal. Ich lasse mich von ihm nicht daran hindern, mein Team anzufeuern und aus der Fassung bringt er mich auch nicht mehr. Der ist doch nur ein Lutscher und irgendwann wird er es leid sein, meinem Team zuzusehen. Jedes meiner Mädchen ist zwanzigmal besser als er es je sein wird.«
Frau Volckmann-Doose hatte kein einziges Wort von Vanys flammender Rede mitgeschrieben und das irritierte Vany noch viel mehr als ihre ewige Kritzelei. Sie ließ sich nichts anmerken, saß aufrecht und hielt dem Blick der Schulpsychologin stand. Wenn sie nur irgendetwas sagen würde! Das tat sie allerdings nicht, also fragte Vany: »Kann ich dann jetzt gehen?«
Frau Volckmann-Doose zuckte die Achseln. »Du hast mir deinen Standpunkt klargemacht und du kennst meinen. Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Dafür reicht meine Ausbildung nicht aus. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass du professionelle Hilfe benötigst und wenn du gerade so einsichtig bist, überzeugst du deine Eltern vielleicht davon.«
Wie bitte? Was? Vany sollte zu ihren Eltern gehen und sie darum bitten, in die Klapsmühle gesteckt zu werden? Vany erhob sich langsam und bekräftigte mit Eisesstimme: »Wissen Sie, meine Eltern kennen mich ganz gut. Wenn sie der Meinung sind, dass ich das allein schaffe, dann schaffe ich das auch allein.«
Damit wandte sie sich um und verließ das Büro. Es war schwer zu beschreiben, was sie fühlte. Bis zu diesem Termin hatte sie an ihrem Leben als Vany festgehalten. Sie hatte in Betracht gezogen, den Rebekka-Plan fallen zu lassen und sich tatsächlich auf das wahre Leben zu konzentrieren. Aber laut Aussage ihrer Psychologin war die wirkliche Vany besser in einer Irrenanstalt aufgehoben. Vany versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken. Sie bewegte sich wie ferngesteuert und hatte das seltsame Gefühl, gar nicht richtig real zu sein. Als wäre Rebekka die reale Person und Vany eine Erfindung. Es war noch Unterricht und während der laufenden Stunde kam Vany nicht in die Turnhalle. Dafür hätte sie einen Schlüssel gebraucht oder gegen eine Scheibe klopfen müssen, was vermutlich eh keiner bemerkt hätte. Zu spät zum Sport zu kommen, hieß, dass man draußen warten musste. Also ging sie in die Mensa, in der lediglich ein paar Oberstufler saßen, die sich leise unterhielten. Vany setzte sich an Leons bevorzugten Tisch und wartete. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Es war ein bisschen, als würde die Zeit stillstehen. Sie fühlte sich vollkommen losgelöst von sich selbst. Es war ein beunruhigendes Gefühl, als hätte sie ihren Körper verlassen und wüsste jetzt nicht, wie sie zurückkehren sollte. Sie starrte vor sich hin und war kaum in der Lage auch nur einen Finger zu bewegen. Sie hoffte so sehr, dass jemand kommen und sie schütteln würde und dann wäre alles wie vorher, aber es kam niemand. Und als es endlich zur Pause klingelte, war es Vany, als hätte sie jeglichen Kontakt zu sich selbst für immer verloren. Von nun an galt nur noch ein Plan: »So tun als ob.« Sie würde allen etwas vorspielen. Sogar sich selbst. Und wenn sie darin richtig gut wurde, würde sie sich vielleicht irgendwann einmal selbst glauben.
5: So tun als ob
Jazz war als Erste bei ihr, ließ sich neben sie fallen und fragte: »Hey, alles klar? Wie lief’s bei der Psychotante?«
Vany legte den Schalter um, knipste das Lächeln an und erwiderte: »Ganz okay. Sie sagt, sie hat keine Zeit mehr für mich. Wegen der Prüfungen und der Maiferien und so. Mir soll’s egal sein. Guck ich euch eben beim Sport zu.«
»Was?«, rief Jazz entsetzt. »Du willst dich vor einen Zug werfen und sie meint, sie hat keine Zeit mehr für dich? Wie ist die denn drauf?«
Vany zuckte die Achseln. »Anscheinend sind meine Eltern der Meinung, dass ich keine Hilfe benötige. Sie glauben, ich komme selbst wieder auf Kurs. Und eigentlich glaube ich das auch.«
Jazz verzog den Mund und schien nicht überzeugt zu sein.
»Tu mir einen Gefallen und ruf mich das nächste Mal an, wenn du auf die Idee kommst, dir etwas anzutun, ja?«
Vany nickte. »Ja, das mache ich. Danke, Jazz. Obwohl ich nicht glaube, dass es dazu kommen wird. Ich habe meine Lektion gelernt. Es war hart genug, auf dem Bahnsteig aufzuschlagen. Ich mag mir die Schmerzen bei einem Zusammenstoß mit einem Zug gar nicht ausmalen. Ehrlich, ich mach so was nicht noch mal.«
Jazz sah sie immer noch zweifelnd an, gab aber auf. »Soll ich dir einen Salat holen? Oder meinst du, dass Leon das macht?«
Vany reckte den Hals und sah sich in der Mensa nach Leon um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.
»Vermutlich eher nicht. Wäre total lieb, wenn du das machen könntest.«
»Alles klar.«
Jazz parkte ihre Sporttasche bei ihr und reihte sich in die Essenschlange ein. Vany holte ihr Handy hervor und überprüfte, ob Leon sich gemeldet hatte, aber da war nichts. Sie presste die Lippen aufeinander. Ihr mochte alles Mögliche in ihrem Leben schnurzegal sein, Leon war es mit Sicherheit nicht. Der Plan hieß »So tun als ob«, allerdings war Leon davon ausgenommen. Ihm wollte sie nichts vorspielen. Von ihm wollte sie wirklich wahrgenommen werden. Als Person. Als Vany. Leon war ihr letzter Rettungsanker, bevor sie Rebekka ganz das Feld überließ. Doch Leon kam nicht. Während der gesamten Mittagspause tauchte er nicht auf. Jazz gegenüber ließ Vany sich nichts anmerken, dennoch durchbrach sein Fehlen den Eispanzer in ihrem Inneren. Die letzten Stunden vergingen wie in Zeitlupe und Vany war heilfroh, als sie nach Hause gehen konnte. Sie ließ sich extra Zeit, um die Begegnung mit Tim hinauszuzögern, auf die sie genauso wenig Lust hatte wie auf »keine Begegnung«, auf seine geschlossene Zimmertür, die nichts als seine absolute Ablehnung symbolisierte. Sie dachte darüber nach, in den Jacobipark zu gehen und sich an den Ententeich zu setzen, in der Hoffnung, dass Leon irgendwann vorbeikam, andererseits wusste sie nicht genau, worüber sie mit ihm reden sollte. Um Leon zurückzugewinnen, reichte »so tun als ob« nicht aus. Ihm gegenüber würde sie auspacken müssen. Und dann war es aus mit Rebekka McLight, denn Leon hatte nicht den geringsten Anlass, sie bei diesem irrwitzigen Plan zu unterstützen. Vielleicht bekam sie ihn dafür. Ganz und gar. Eine Berührung am Handgelenk, ein zartes Streicheln über die Wange, einen ersten Kuss. Vielleicht aber auch nicht. Es war genauso gut möglich, dass er sie nach einer Beichte von Grund auf verabscheute. Und das raubte Vany jeden Mut. Also unternahm sie nichts, ließ sich treiben und ging nach Hause.
Entgegen ihrer Erwartungen, hatte Tim sich nicht hinter seiner Zimmertür verschanzt. Er saß im Wohnzimmer und lernte am Esstisch. Offenbar hatte er auf sie gewartet. Er legte den Stift zur Seite, als sie eintrat und erkundigte sich: »Wie war dein Tag?«
Vanys Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Beschissen. Und deiner?«
»Beschissen«, entgegnete Tim. »Setzt du dich zu mir?«
Vany zuckte die Achseln und setzte sich. Es war verrückt. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatten sie hier alle zusammen gesessen und Risiko gespielt. Ein hübsche kleine Bilderbuchfamilie. Und auf einmal lag alles in Trümmern. Tim schien von ihr zu erwarten, dass sie irgendetwas sagte, doch ihr fiel nichts ein. Verlangte er eine Entschuldigung? Eine Erklärung? Irgendeine Form von Versprechen?
Endlich brach er das Schweigen: »Wir haben dich alle sehr lieb, Vany. Das weißt du, oder?«
Vany ließ den Kopf hängen und musterte die Tischplatte. Seit Jahren sprach ihr Vater davon, dass er den Tisch abschleifen und ölen wollte. Er hatte wahnsinnig viele Macken und Glasabdrücke. Vany fühlte sich ein bisschen wie dieser Tisch. Verbraucht, abgenutzt, schmutzig, aber im Grunde noch gut. Zum Wegwerfen zu schade. Tim fuhr fort, als sie nicht antwortete: »Ich würde dir gerne helfen, weiß jedoch nicht wie. Ich fühle mich wie ein Versager, weil ich nicht eher gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt. Und irgendwie bin ich ja schuld an dem Ganzen, weil du ohne mich nie angefangen hättest, Let’s Plays zu sehen.«
Überrascht