Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.Daher ist Benvenistes Frage – seine Frage mehr als seine Antwort – in Bezug auf die Vielfalt, ja Disparität, in Wahrheit die offensichtliche Antinomie der in ein und derselben Wurzel versammelten Bedeutungen, für uns weiterhin von Interesse. Benveniste fragt sich:
Die Disparität der Bedeutungen wirft jedoch eine Schwierigkeit auf: dominiert der Begriff „strafen“ oder der Begriff „ehren“? Kann man von „Strafe erwirken, Rache üben“ zu der Vorstellung „ehren, Ehre bereiten“ gelangen? Vereinbaren ließen sich die zwei Bedeutungen nur durch eine recht vage Verknüpfung […].87
Was meint er, wenn er von einer „recht vage[n] Verknüpfung“ spricht…? Sollte es da eine recht vage Verbindung zwischen strafen und ehren geben? Ja sogar eine recht vage Verbindung zwischen dem, was man „strafen [punir]“, Bestrafung [punition], Strafe [peine] nennt, einerseits, und dem Tod, insbesondere der Todesstrafe [peine de mort] andererseits?
+ Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Erinnern Sie sich auch an das verlegene Argument Rousseaus im Contrat social über den öffentlichen Feind/Staatsfeind [ennemi public]: Man hat das Recht, einen Bürger zum Tode zu verurteilen, weil er zu einem öffentlichen Feind geworden ist, weil er sich wie ein Feind des Sozialkörpers oder der Nation verhalten hat.“ Das Folgende ist akustisch unverständlich (A.d.H.).
Zweite Sitzung
13. Dezember 2000
Wenn ich erkläre, und wenn ich nun komme, um Ihnen, ohne zu deklamieren, zu sagen „ich leide“, „ich leide“ an meiner Seele oder an meinem Körper, insbesondere wenn ich murmele „ich leide“ an meiner Psyche, ohne sogenannten physischen Schmerz, vorausgesetzt, dass das möglich ist, ein rein psychischer Schmerz, nun, was sage ich Ihnen da im selben Atemzug? Verstehen Sie mich? Was verstehen Sie? Sie vernehmen mich natürlich, aber verstehen Sie mich? Verstehen Sie den Sinn dieser Worte, „ich leide“?
Vielleicht muss ich nun den Sinn meiner Frage präzisieren und zuspitzen, und mein Vokabular etwas ändern, um Ihnen verständlich zu machen, wohin ich gehe, um Ihnen anzuvertrauen, worin meine Strategie besteht, wenn ich Ihnen, ohne zu deklamieren, erkläre: „ich leide“. Ich tue das gewiss nicht, um Ihr Mitleid zu erregen, Sie haben das wohl verstanden, sondern als Professor, um Sie, auf pädagogische Weise, zu der Frage zu führen, die ich Ihnen zu vernehmen/verstehen [entendre1] geben möchte.
Wenn ich Ihnen sage oder wenn ich denke, dass „ich leide [je souffre]“, an meiner Seele, grausam, dann habe ich also das, was man peine [„Kummer/Schmerz/Pein“] nennt. Da haben Sie das Wort, nun ist es raus [lâché], und es bleibt schwach [lâche]. Ich habe Mühe/Pein [Je peine], ich empfinde Kummer/Schmerz/Pein [j’ai de la peine], ich bin bekümmert/gepeinigt [je suis peiné]. Um welche peine handelt es sich? Was will „peine“ sagen?
Kommt diese „peine“ von mir oder vom Anderen, letztendlich? Was ist ihre Ursache? Wer ist ihre Ursache? Kommt sie jemals nur von mir, die besagte peine? Kommt sie immer vom Anderen, und von außen? Oder sind die Dinge verwickelter, und deshalb eben gerade peinsamer (painful, peinlich*)? Ich gehe von einer Sprache zur anderen über, um zu problematisieren, um Ihre Aufmerksamkeit um jenes semantische Problem herum zu alarmieren, das sich zwischen dem Peinsamen [pénible] der peine [„Pein“] und dem Strafbezogenen [pénal] der peine [„Strafe“] auftut, zwischen dem painful des pain [„Schmerz“] und dem painful der penalty [„Strafe“2]. Bin ich jedes Mal, wenn ich leide [je souffre], wenn ich Mühe/Pein habe [je peine] oder Kummer/Schmerz/Pein [peine] empfinde, jedes Mal, wenn Kummer/Schmerz/Pein mich packt, bin ich dann bestraft [puni]? Erdulde ich dann eine Pein, die bereits einer Strafzahlung [pénalité] ähnelt? Bedeutet jede peine [„Pein/Strafe“], dass ich schuldig bin oder für schuldig gehalten werde? Die Hypothese ist verführerisch, in jedem Falle signifikant.
Wenn ich sicher wäre, dass die genannte peine [„Pein/Strafe“] nur von mir kommt, wenn ich sicher wäre, dass sie nur von mir abhängt, würde ich dann leiden? Nein, ich glaube nicht. Wenn ich, im Gegenteil, sicher wäre, dass sie vom Anderen, nur vom Anderen und von außen kommt, dass sie an ihrem Ursprung und an ihrem ursprünglichen Ort, hinsichtlich ihrer Ursache und ihrer Herkunft mir äußerlich wäre, würde ich dann leiden? Nein, ich glaube nicht. Damit ich leide, damit psychisches Leiden möglich ist, ist es also notwendig, dass die Pein/Strafe [peine] von innen nach außen, von außen nach innen kommt. Sie muss von außen nach innen oder von innen nach außen zu mir kommen und in einer bestimmten Weise auf dieser unwahrscheinlichen Grenze des Innen-Außen, des Außen-Innen verbleiben. Und wenn man peine (poena3) überstürzt mit punition [„Bestrafung“] übersetzen würde, müsste man bereits daraus schließen, dass es keine reine Selbst-Bestrafung [auto-punition] und auch keine reine Fremd-Bestrafung [hétéro-punition] gibt.
Wo führt uns das hin? Wir müssen warten, und einige Zeit in dieser Erwartung eingeschlossen bleiben – wie in einem Gefängnis, bevor wir den Ausgang sehen, den Ausweg aus dieser Aporie. Die Aporie, auf die wir hier großen Wert legen, könnte manch einer übrigens mit einem Gefängnis vergleichen, einer Haftanstalt [maison d’arrêt]. Die Aporie, das ist das, was an-/festhält[arrête], oft im Zusammenhang mit einem Urteil oder Verdikt; die Aporie, das ist das, was paralysiert, den Ausgang blockiert, die Türen verschließt und uns der Sackgasse zu weihen scheint – zu Tode, dead end, deadlock.4 Jede Sackgasse ist ein Gefängnis, und wenn man fürs Leben der Aporie geweiht ist, und wenn man eine solche Sicht der aporetischen Erfahrung hat (5 was nicht genau mein Fall ist, da ich immer, auf schmerzhafte Weise, es ist wahr, mit Mühe [avec peine], penibel, auf der Notwendigkeit und der Chance des verantwortlichen Denkens, ja der verantwortlichen Entscheidung und der verantwortlichen Antwort insistiere, die, wenn ich so sagen kann, den Durchgang, und zwar sogar den endlosen Durchgang durch die Aporie freigibt, wenn man so sagen kann, „durch die Aporie“, „durch die Aporie hindurch“. Kann man das sagen? Es kaum [à peine] sagen? Was man kaum sagen kann, das ist im Grunde das, was man immer sagen müsste, was man sagen können müsste; ebendies wäre vielleicht der kategorische Imperativ der Dekonstruktion, wenn es denn eine(n) gibt: Sagen und denken, was man kaum sagen und denken kann. Kaum [À peine]. Ohne aus der Aporie ein Heil zu machen, und ohne aus der Haftanstalt ein Paradies zu machen, gilt es zu wissen, muss man wissen, dass der Weg selbst dasjenige ist, dem man nicht entkommt, bis zum Tod, und dass der Weg selbst eine Aporie ist, die den Ort wechselt, so als ob Unterwegs-sein oder Reisen oder Einen-Schritt-machen nicht darin bestünde, das Gefängnis zu verlassen und der Aporie ein Ende zu setzen, sondern darin, das Gefängnis zu wechseln, die Zeit zwischen den Haftanstalten zu gestalten.
Was ist das, eine peine? Ist diese Frage die Mühe [peine] wert, gestellt zu werden? Und was geschieht, wenn man kaum [à peine] unterscheiden kann zwischen der Pein/Strafe [peine] und der Nicht-Pein/Nicht-Strafe, dem Strafbezogenen [pénal] und dem Nicht-Strafbezogenen [non-pénal], dem Strafrecht und dem nicht-strafbezogenen Recht, oder zwischen mehreren heterogenen Arten von peine, von denen die einen natürlich und die anderen nicht-natürlich, ja widernatürlich sind, während sie gleichwohl, trotz dieser absoluten Heterogenität, gemeinsam haben, allesamt peines genannt zu werden, und denselben Namen verdienen, sei es gerechtfertigt oder nicht?
Gibt es einen vereinheitlichungsfähigen Begriff der peine? Kaum [À peine], würde man bisweilen sagen.
Die peine de mort [„Todesstrafe“], sagt man auch. Und die Todesstrafe, sagt man dann?
Was ist das, die Todesstrafe? Ist das eine Pein/Strafe [peine]? Gibt es etwas, das diesem Namen wirklich entspräche? Dieser Name, dieses Nomen (Tod/mort und Strafe/peine), dieses nominale Syntagma, die Todes-Strafe oder die Kapital-Strafe6, ist das ein begrifflich fassbares Ganzes oder ein so gegliedertes [articulé] Syntagma, dass es auch auseinandernehmbar [désarticulable] ist?
Und wenn die Todesstrafe