Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.werden kann, auch vom unbewussten Alter des Begehrens oder des Tuns [acte] der Richter oder der Gesellschaft gesagt werden kann, die zum Tode verurteilt und hinrichtet, dann ist diese schwindelerregende Frage des Alters, der Geschwindigkeit, des Geschwindigkeitsdifferentials30, der Differenz zwischen dem Langsamen und dem Schnellen nicht zu trennen von der Frage des Gesetzes und des Rechts im Allgemeinen, der Kriminologie im Besonderen, der Beziehungen zwischen der Geschichte des Strafrechts oder der Kriminologie und der Psychoanalyse. Wir werden einige der rätselhaftesten, der aporetischsten Gegebenheiten davon reaktivieren, indem wir bestimmte Texte von Reik über den Geständniszwang (vgl. Bibliographie31) lesen, sowie einige Texte, von denen ich vorhin schon sprach, die von Reik im Namen von Freud geschrieben und signiert wurden, über die Todesstrafe – und über eine Schuld, die, weit davon entfernt, auf das Verbrechen zu folgen, ihm vorausgeht, und ihm von der archaischsten Bildung des Unbewussten her vorausgeht. Die Sache ist umso komplexer, beunruhigender, verwirrender, schwieriger zu behandeln, als die Vielzahl der Alter, unserer Alter, der heterogenen Alter, die sich unser Leben als Sterbliche teilen, und die es sich simultan teilen (wir haben synchron mehr als ein Alter), diese Dyschronie oder diese wesentliche Anachronie, die uns spaltet, vervielfacht, teilt, die uns, Überreste zurücklassend, verschlingt, die uns in den Tod führt, wobei sie immense Zonen an Jugendlichkeit, ja an embryonalen und noch nicht „geborenen“ Virtualitäten unangetastet lässt [die Sache ist umso komplexer, beunruhigender, verwirrender, als die Vielzahl der Alter, unserer Alter] nicht nur die ontogenetische < Vielzahl > eines Individuums, eines bewussten oder unbewussten Subjekts, ja eines bewussten oder unbewussten Ichs ist, das ist nicht nur die Vielzahl an Altern in jedem Augenblick der psychischen Ökonomie oder des psychischen Systems (das Es, wenn Sie so wollen, das Ich, das Überich, das Ichideal, das Idealich usw., und wir könnten diese Instanzen vervielfachen), das ist auch, in jedem von uns, die irreduzible Vielzahl an Altern der Menschheit, der anthropologischen Kultur, ja der Alter des (menschlichen oder tierlichen) Lebens im Allgemeinen. Nehmen Sie einmal an, ich töte: In welchem Alter werde ich getötet haben, oder werde ich getötet worden sein? In welchem Alter meines Personenstands, oder in welchem archaischen Alter meiner Geschichte, als ich 6 Monate, 2 Jahre alt war, als ich noch nicht lesen und schreiben konnte, oder mit 15 Jahren? Oder mit bereits 100 Jahren? Wer wird wen getötet haben, in welchem Alter? Es gibt da, in unserem Bewusstsein und in unserem Unbewussten, simultan etwas von einem Greis und etwas von einem Kind, aber auch etwas vom Menschen des 20. Jahrhunderts und des 5. Jahrhunderts vor Christus, vom Cromagnon-Menschen und vom Neandertaler, vom Menschenaffen, vom Tiger und vom Eichhörnchen. Wer bist du? Welches Alter hast du32 in dem Moment, in dem du tötest, ja in dem Moment, in dem du getötet wirst, das sind Fragen des Alters, die man dem Angeklagten, dem Verbrecher, aber auch dem Richter und dem Henker stellen kann, ohne jemals eine befriedigende Antwort erwarten zu können, aus Mangel an Wissen, zunächst mangels Wissen darüber, was die Frage sagen will. Diese Alter lassen sich nicht ineinander übersetzen, sie kohabitieren auf tausenderlei Weisen, sie führen gegeneinander Krieg oder machen miteinander Liebe, gemäß einer Geselligkeit [socialité], hinsichtlich derer das Recht der menschlichen Person über keinerlei Vorbild verfügt. Wen be- oder verurteilt33 man? Welches Alter be- oder verurteilt man? Wo sind die Experten für die Evaluierung dieser „mentalen“ oder „sozialen“ Alter, die nicht einmal mehr Alter der Menschheit sind?
Um noch an der Oberfläche dieser „Frage des Alters“ zu bleiben, erinnere ich mit einigen Worten kurz an zwei andere exemplarische Dimensionen.
1. Einerseits an die der Abtreibung und des Rechts, das Leben eines Embryos durch eine berechenbare Entscheidung abzubrechen. Unter welchen Bedingungen, zu welchen Bedingungen, wie viele Wochen lang muss man einen Embryo für eine menschliche Person halten, für ein virtuelles Rechtssubjekt, dessen Leben respektiert werden muss, usw.? Wie Sie wissen, hat man gerade das Recht auf Schwangerschaftsabbruch von zehn auf zwölf Wochen verlängert34; man hat ebenfalls beschlossen – ein weiteres Problem in Bezug auf den Embryo –, genetische Forschungen und Versuche an solchen Embryonen zu erlauben, die von ihren virtuellen Eltern aufgegeben (also dem Tod preisgegeben) wurden, wobei diese Erlaubnis so weit wie möglich geht, außer dem sogenannten reproduktiven Klonen (Forschungen und Versuche, ohne die Grenze des sogenannten reproduktiven Klonens zu erreichen oder zu überschreiten, könnte man also weiterhin durchführen), so als ob irgendjemand, insbesondere irgendein Ethikausschuss diesbezüglich jemals in der Lage gewesen wäre, auch nur den geringsten Embryo von einem Begriff zu produzieren, der dieses Namens würdig wäre, einschließlich eines Begriffs des Klonens, vom Begriff des Re-produktiven ganz zu schweigen...
Sie wissen, dass die Antworten auf diese Batterie von Fragen von einer Nation zur anderen, von einer Stätte der Wissenschaft zur anderen sehr verschieden ausfallen, überaus beweglich sind und nie, absolut nie auch nur im Geringsten auf einem strikten, im strengen Sinne strikten Begriff oder Prinzip gründen, welche Partei man auch ergreift, ob man nun dafür oder dagegen ist; was die wesentliche Fragilität des geläufigen Begriffs der „Person“, der „juridischen Person“ und des Rechtssubjekts deutlich vor Augen führt. Sie wissen ebenfalls, dass die – zumindest rhetorische – Bezugnahme auf den Mord und die Todesstrafe im Zentrum der Argumentationsweisen gegen die Abtreibung steht, die bestimmte Leute für ein Verbrechen oder eine Hinrichtung, ja sogar einen Massenmord halten, demographisch gesehen vom Ausmaß der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit35 in diesem Jahrhundert, wobei eine zusätzliche und höchst bezeichnende soziologische Bizarrerie damit zusammenhängt, dass die militantesten Gegner der Abtreibung meistens (nicht immer, aber meistens, insbesondere in den Vereinigten Staaten) Anhänger der Todesstrafe sind.
In seinem jüngsten Buch, L’Abolition („Die Abschaffung < der Todesstrafe >“)36, im Kapitel mit der Überschrift „Von einem Präsidenten zum anderen“, auf das wir unter einem anderen Gesichtspunkt noch einmal zurückkommen werden, wenn wir die Frage des Präsidenten ansprechen (Was ist ein Präsident? Worin besteht die Figur des Präsidenten in dieser Geschichte der Todesstrafe?), ruft Robert Badinter jenen Moment zu Beginn der Präsidentschaft von Giscard d’Estaing in Erinnerung, als Giscard, nach Pompidou (jenem Präsidenten, der sich als eher hart erwiesen und die Begnadigung von Buffet und Bontems37 abgelehnt hatte, erinnern Sie sich an L’Exécution, worüber wir letztes Jahr sprachen38), < als Giscard > „im Privaten seine tiefe Abneigung gegen die Todesstrafe“ erklärt hatte.39 Was bei den Befürwortern einer Abschaffung der Todesstrafe40 viele Hoffnungen aufkommen ließ, Hoffnungen, die bis zur nächsten Präsidentschaft, der von Mitterand von 1981 an, enttäuscht wurden. Unter Giscard – und das ist das einzige Indiz, das ich im Augenblick isolieren möchte, neben einer Verfassungsreform, die den Verfassungsrat41 reformierte (eine Institution, die sich vom Obersten Gerichtshof in Amerika, über den wir noch sprechen werden, unterscheidet, aber irgendwie mit ihm vergleichbar ist) – wurden jedoch zwei Gesetze verabschiedet, die beide alles in allem diese „Frage des Alters“ betrafen. Das Alter der Volljährigkeit wurde auf 18 Jahre gesenkt, und das Gesetz über die Abtreibung wurde am Ende dessen, was Badinter eine „betrübliche Debatte“42 nennt (im Laufe dieser Debatte wurde Simone Veil, die den Gesetzesentwurf vorgelegt hatte, beschimpft und mit einer Naziverbrecherin verglichen), das Gesetz über die Abtreibung wurde dank der massiven Zustimmung der Linken mit 284 gegen 189 Stimmen verabschiedet.43 Nun hatten aber, wie Badinter in Erinnerung ruft, im Laufe der Debatten einige Leute erklärt, man könne nicht gleichzeitig ein Gegner der Todesstrafe, das heißt ein Anhänger der absoluten Achtung vor dem Leben sein (vorausgesetzt, man könne, was ich nicht glaube, gegen die Todesstrafe sein, ohne ein unbedingtes Recht auf das Eigentum am eigenen Leben zu setzen, aber lassen wir das) [einige Leute hatten also erklärt, man könne nicht gleichzeitig gegen die Todesstrafe, das heißt ein Anhänger der absoluten Achtung vor dem Leben,] und für eine Liberalisierung der Abtreibung sein. Diese Verbindung, die eine bestimmte Rhetorik gebraucht und missbraucht, wollte ich hier in Erinnerung rufen. Badinter hat kurz danach Folgendes erwidert, was mir ein wenig vorschnell zu sein scheint: „Aber die Todesstrafe war eine Strafe, die dem Verurteilten von der Gesellschaft auferlegt wurde, während die Wahl der Abtreibung der Entscheidung der Frauen überlassen wurde. Die Freiheit war auf ihrer Seite. Nichts dergleichen im Falle der Todesstrafe.“44
Worauf die Gegner