Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.gerade in den Vereinigten Staaten geschieht, während und nach der Wahl des neuen Präsidenten. Die Figur des „Präsidenten“, das heißt einer Souveränität, die der demokratischen Wahl unterworfen ist, hatte besondere Aufmerksamkeit verdient. Wir haben also auch auf das Bezug genommen, was im letzten Buch von Robert Badinter, L’Abolition („Die Abschaffung [der Todesstrafe]“), unter anderem über den „Präsidenten“ und die jüngste Geschichte der Todesstrafe in Frankreich gesagt wird.
Am Kreuzungspunkt der die Vereinigten Staaten betreffenden Analysen und einer psychoanalytischen Problematik, und während wir gleichzeitig eine gewisse „Geschichte des Blutes“ verfolgten (Sichtbarkeit oder nicht der Exekution, Übergang zur Injektion eines tödlichen Gifts, Weisen der Sichtbarkeit, der Öffentlichkeit, der Theatralität, opferhafter Ritualität – Lektüre Foucaults und Diskussion seiner These über die fortschreitende Ent-Spektakularisierung der Strafe; aber auch Lektüre von Donoso Cortés über das blutige Opfer und die Todesstrafe [1859]), haben wir uns auch von folgenden drei Fragen leiten lassen, denen wir einen Sinn zu geben versuchten, der ebenso neu wie spezifisch auf die Geschichte aller „Verbrechen und Strafe“ abgestimmt ist: 1. Was ist eine Tat/ein Akt [acte]? 2. Was ist ein Alter? 3. Was ist ein Begehren?4
Im Folgenden nun unsere Übersetzung der wenigen, auf Englisch verfassten Sätze, die Derrida an seine Zuhörer in der New School < for Social Research > zur Eröffnung seines Seminars richtete:
Der „11. September“ (9/11) wird jetzt zu einem Namen – nicht nur ein Datum, sondern ein Name, der unauslöschliche Name eines Ereignisses, für das (und das ist, wie ich behaupten werde, nicht nur eine Frage der Ökonomie der Bezeichnung, auch nicht nur eine Frage der Rhetorik), eines Ereignisses also, für das kein anderer Name, kein anderer Begriff geeignet, adäquat, verlässlich zu sein scheint. So als ob man, zumindest implizit oder unbewusst, die gängigen Begriffe zur Benennung dieser unaussprechlichen Erfahrung für inadäquat hielte: solche wie „Tragödie“, „schreckliches Ereignis“, „Kriegshandlung“, und sogar „Terrorakt“. Wir werden, so hoffe ich jedenfalls, im Laufe des Seminars oder in den Diskussionen auf diese Begriffe Krieg und Terrorismus zurückkommen. Kürzlich sah ich mir im Fernsehen die Debatten vor der UNO an, und obwohl zahlreiche Erklärungen und zahlreiche vorausgehende einmütige Vereinbarungen, zahlreiche offizielle Abkommen in der Vergangenheit und auch heute noch das, was man internationalen Terrorismus nennt, verurteilt haben, spielte der Generalsekretär auf Diskussionen an, die hinter den Kulissen über den Begriff des Terrorismus im Gange seien. Dieses schwierige Problem ist natürlich nicht zu trennen von den Problemen, die von klassischen Begriffen wie „Krieg“, „Staatssouveränität“ usw. aufgeworfen werden, die im Zentrum unseres Seminars über die Todesstrafe stehen sollten.
Am 11. September, dem Tag des unaussprechlichen Ereignisses, war ich in Shanghai, und ich war nicht sicher, nach Europa und in die Vereinigten Staaten zurückkehren zu können. Zurück in Paris habe ich Richard Bernstein angerufen, um ihm zu sagen, dass ich, falls es technisch (in Sachen Flug usw.) möglich wäre, gerne wieder hierher kommen würde, so als ob ich zu mir nach Hause käme, um mit meinen Freunden und Kollegen in New York, vor allem an der New School, mit Ihnen die Traurigkeit und die Trauer zu teilen, aber auch das Nachdenken, welches das einfordert, was wir in Ermangelung einer geeigneteren Beschreibung „der 11. September“ nennen. Ich hoffe, dass sich das Sujet des Seminars stets darauf beziehen wird, mag diese Bezugnahme auch indirekt oder implizit bleiben.
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Es ist uns ein großes Anliegen, Marguerite Derrida herzlich zu danken, des weiteren Thomas Dutoit für seine Beteiligung an der ersten Entzifferung des Typoskripts, Jean-Luc Nancy, Cécile Bourguignon, sowie Michael Naas, Elizabeth Rottenberg und Pascale-Anne Brault für ihre Hilfe bei der Erstellung des Texts der letzten Sitzung.
Geoffrey Bennington
Marc Crépon
Erste Sitzung
6. Dezember 2000
Bitte gestatten Sie mir ein weiteres Mal, nicht allzu weit zurück zu blicken und nicht den ganzen Weg zu rekonstruieren, den wir im letzten Jahr oder, im Sinne von Prämissen, sogar im Laufe der letzten Jahre gegangen sind. Dieses Mal schien es mir am bequemsten zu sein, Ihnen eine knapp gehaltene Bibliographie zur Verfügung zu stellen.1 Sie würde es denen, die das Seminar im letzten Jahr nicht verfolgen konnten, erlauben, zumindest bestimmte Etappen und grundlegende Referenzen nachzuvollziehen, zum Beispiel im Hinblick auf die anfängliche Inszenierung, die Erinnerung an, ja die Analyse von vier großen paradigmatischen Gestalten (die nicht, wie im Jahr zuvor zum Thema Vergebung und Eidbruch2, vier protestantische Männer waren, die auf ihre Art Präsidenten waren, Hegel, Mandela, Tutu und Clinton – die drei Lebenden3 waren buchstäblich Präsidenten, einer von ihnen Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, wir werden dieses Jahr, von heute an, rasch auf diese Gestalt und Figur des „Präsidenten“, ja des Präsidiablen oder Präsidentiellen, des Souveräns mit dem Beinamen „Präsident“ zurückkommen: Was ist ein Präsident? Das wird eine der Fragen sein, über die wir also von heute an sprechen werden), jene paradigmatischen Gestalten waren also im letzten Jahr nicht diese vier protestantischen Männer, sondern dieses Mal drei Männer und eine Frau (Sokrates, Jesus, Al-Halladsch, Jeanne d’Arc4, die nichts Protestantisches an sich hatten und die zum Tode verurteilt worden waren durch eine religiöse Macht, die bei der Ins-Werk-Setzung des Urteilsspruchs und bei der Exekution regelmäßig von einem Staatsapparat unterstützt, ja inspiriert wurde; daher die Einführung einer großen Problematik über das Theologisch-Politische und die Todesstrafe, in Wahrheit über die Grundlegung des Onto-Theologisch-Politischen im Recht zur Todesstrafe, wobei all dies über die große Frage einer in Dekonstruktion befindlichen Souveränität verlief, und die Dekonstruktion schließlich zu dem wurde beziehungsweise sich letztendlich als das erwies, was, um es zu dekonstruieren, mit dem phallogozentrischen Gerüst [échafaudage], um nicht zu sagen Schafott [échafaud] der onto-theologisch-politischen Souveränität ringt, mit jener seltsamen, erstaunlichen und verblüffenden Tatsache, dass sich nie – absolut nie – irgendein philosophischer Diskurs als solcher in seinem im eigentlichen Sinne philosophischen Argumentieren dem Prinzip – ich sage wohlweislich dem Prinzip – der Todesstrafe widersetzt hat, was uns, die wir darüber verblüfft sind, das Ausmaß der Schwierigkeit oder der Aufgabe vor Augen führt: Ist es möglich, sich dem Prinzip der Todesstrafe zu widersetzen oder ihm etwas entgegenzusetzen, das als unbedingtes Prinzip bezeichnet wird, und nicht eine Überlegung empirischer Opportunität, relativer Nützlichkeit oder wahrscheinlicher praktischer Notwendigkeit?).
Danach, nach der Lektüre von Texten in Bezug auf diese Figuren, hatten wir das Buch Exodus um die Frage des Gebots „Du sollst nicht töten!“ herum gelesen, gefolgt von den von Gott dekretierten „Rechtsordnungen“, die die Todesstrafe für diejenigen vorschreiben, die gegen dieses oder jenes Gebot verstoßen. Ich werde die Analysen, die wir all diesen Texten (von Beccaria über Kant, Hugo, Genet und einige andere bis zu Camus), modernen Rechtstexten oder internationalen Erklärungen seit dem letzten Weltkrieg, sowie der Entwicklung der Lage der Todesstrafe in den USA gewidmet haben (insbesondere mittels Zeitungslektüre, wobei die USA heute die einzige sogenannte westliche Demokratie europäisch-jüdisch-christlicher Kultur sind, die in massivem und zunehmendem Maße eine Todesstrafe aufrechterhält, deren legale Anwendung eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zumindest zwischen 1972 und 1977 aufgehoben hatte) [ich werde all diese Analysen] natürlich nicht noch einmal wiedergeben, genauso wenig wie die allgemeine Einführung einer Problematik der Souveränität um zwei Begriffe herum, die uns durchgehend als Leitfaden gedient hatten:
1.) Die Ausnahme (ein rätselhafter Begriff, der im Zentrum sowohl der Texte von Carl Schmitt über die Souveränität als auch zahlreicher Texte der Moderne zum Recht und insbesondere zum internationalen Recht steht, die wir untersuchten, und die zwar die Folter und grausame Behandlungen verurteilen, aber mit Ausnahmen, und die Ausnahme verweist immer auf die Todesstrafe. Was ist eine Ausnahme? Und was ist die Souveränität? Das waren die Fragen des letzten Jahres, und sie waren um folgende Frage herum miteinander verknüpft: Wer entscheidet souverän darüber, was die Ausnahme ist? Im Grunde genommen,