Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.die wiederum zu einem großangelegten Themenblock unter dem Titel „Fragen der Verantwortung“ (1991-2003) führt, unter dem nacheinander folgende Themen angesprochen werden: das Geheimnis (1991-1992), das Zeugnis (1992-1995), Feindschaft und Gastfreundschaft (1995-1997), Eidbruch und Vergebung (1997-1999), die Todesstrafe (1999-2001); das Ganze mündet schließlich in die letzten beiden Studienjahre, die sich dem „Tier und [dem] Souverän“ widmeten.
Jacques Derrida hatte die Angewohnheit, für die zahlreichen Vorträge, die er jedes Jahr in aller Welt hielt, aus dem reichen Material dieser Seminare zu schöpfen, und so wurden auf diesem Wege bestimmte Ausschnitte von Seminaren umgearbeitet und publiziert. Darüber hinaus haben einige seiner Bücher ihren Ausgangspunkt in der Arbeit im Seminar: So ist zum Beispiel ein Großteil von De la grammatologie (1967) eine Weiterentwicklung von Sitzungen eines Seminars über „Natur, Kultur, Schrift“ in den Jahren 1965-1966; das Seminar über „Hegels Familie“ (1971-1972) fand Eingang in Glas (1974); Politiques de l’amitié (1994) präsentiert sich explizit als Weiterentwicklung der ersten Sitzung des Seminars von 1988-1989, wobei sich letztendlich auch Spuren weiterer Sitzungen finden.3 Trotz all dieser Neuzuschnitte und partiellen Überschneidungen ist der weitaus größte Teil der Woche für Woche für das Seminar verfassten Seiten unveröffentlicht geblieben; sie werden eine unschätzbare Ergänzung zum bereits veröffentlichten Werk bieten.
Wie bereits angedeutet, gestaltete sich die editorische Arbeit überaus unterschiedlich, je nachdem, auf welche Weise der Text entstanden ist. Für jene Zeitspanne, in der die Schreibmaschine verwendet wurde, verlangen zahlreiche Streichungen und handschriftliche Anmerkungen nicht zu unterschätzende Anstrengungen bei ihrer Entzifferung. Das gilt umso mehr für jene Seminare, die vollständig per Hand, also mit Jacques Derridas schöner, aber schwierig zu lesender Handschrift redigiert wurden und daher eine äußerst gewissenhafte Transkription erfordern. In einer ersten Phase werden wir also die Seminare der letzten zwanzig Jahre veröffentlichen, wobei das allerletzte Seminar den Anfang macht, während die übrigen zur Publikation vorbereitet werden. Unser oberstes Ziel war es jedenfalls, den Text des Seminars zu präsentieren, wie er von Jacques Derrida niedergeschrieben wurde, im Hinblick auf den mündlichen Vortrag, also mit bestimmten vorweg notierten Mündlichkeitsmarkern und gewissen familiären Wendungen. Es ist nicht sicher, ob Jacques Derrida diese Seminare veröffentlicht hätte, wenngleich er bisweilen eine derartige Absicht äußerte4; sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass er diese Texte, falls er sie für eine Publikation wiederaufgegriffen hätte, im Sinne des geschriebenen Textes überarbeitet hätte, wie er es immer tat. Wir haben es natürlich nicht auf uns genommen, diese Arbeit an seiner Stelle zu erledigen. Wie bereits erwähnt, wird der Leser die Originalversion, die wir hier vorlegen, mit jenen wenigen Sitzungen vergleichen können, die Jacques Derrida selbst eigenständig publiziert hat.
Geoffrey Bennington
Marc Crépon
Marguerite Derrida
Thomas Dutoit
Peggy Kamuf
Michel Lisse
Marie-Louise Mallet
Ginette Michaud
Vorbemerkung der Herausgeber
Das Seminar, das Jacques Derrida der Todesstrafe widmete, verteilte sich auf zwei Studienjahre (1999-2000 und 2000-2001). Im vorliegenden Band veröffentlichen wir die zehn Sitzungen des zweiten Jahres. Wie das Seminar des Vorjahres1 wurde auch dieses zunächst an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) auf Französisch gehalten und anschließend in den Vereinigten Staaten an der University of California in Irvine und an der New School for Social Research in New York auf Englisch wiederholt.
Die ersten neun Sitzungen waren wie gewohnt vollständig redigiert. Ausgangspunkt unserer Arbeit war das Typoskript, das Jacques Derrida während der Seminarsitzungen verwendete und das im Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC, Caen) archiviert ist, die entsprechende Computerdatei sowie die begleitenden Dossiers (Zeitungsausschnitte, Fotokopien der zitierten Texte). Es existieren zwei Exemplare des Typoskripts, von denen das eine, das in den Vereinigten Staaten verwendet wurde, einige handschriftliche Zusätze enthält. Sofern diese nicht ausschließlich für die Übersetzung bestimmt waren, die Derrida vom französischen Text ausgehend vor seinen amerikanischen Hörern improvisierte, haben wir sie berücksichtigt. Darüber hinaus verfügten wir über eine Tonbandaufnahme aller Sitzungen. Die zehnte und letzte Sitzung (die viel Zeit für die Diskussion mit den Hörern ließ) wurde improvisiert. Was sie betrifft, konnten wir unserer Arbeit die Tonbandaufzeichnung zugrunde legen, die bis auf zwei oder drei Ausnahmen, die in Anmerkungen verzeichnet sind, bezüglich der Transkription keine Unsicherheiten zurückließ.
Hinsichtlich der Zitate haben wir uns im Allgemeinen auf die Ausgaben bezogen, die Jacques Derrida selbst benutzte und die wir in seiner persönlichen Bibliothek in Ris Orangis konsultieren konnten, bevor diese im Winter 2014 an die Universität von Princeton übersiedelte.
Darum bemüht, den mündlichen Charakter dieses Schreibens zu bewahren, geben wir auch alle Didaskalien beziehungsweise „Regieanweisungen“ wieder, die im Typoskript enthalten sind, wie auch die Erinnerungen, die Jacques Derrida an sich selbst adressierte, wie „Lesen und Kommentieren“, die ein Zitat ankündigen und oft auch weitere Ausführungen, die während der Sitzung improvisiert wurden: Diese Hinzufügungen haben wir, wenn möglich, ausgehend von der Tonbandaufnahme immer in Anmerkungen integriert.2
Wie bei den vorangegangenen Bänden des Seminars waren wir bestrebt, unsere Eingriffe in das Typoskript auf ein Minimum zu begrenzen. Wo diese aus Gründen der Verständlichkeit nötig waren, haben wir jede Hinzufügung oder Modifikation systematisch angezeigt. Wenn es sich um ein fehlendes Wort handelt, wurde dieses in spitzen Klammern ( < > )3 in den Text eingefügt.
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Die beste Präsentation dieses Seminars ist die, die Jacques Derrida selbst auf zwei sehr unterschiedliche Weisen vorgelegt hat, zunächst im Jahrbuch der EHESS, und dann in den wenigen einleitenden Worten, die er an der New School in New York sprach, einige Tage nach den Ereignissen des 11. September 2001. Wir geben sie hier wieder:
Wir haben die Untersuchungen, die wir im vergangenen Jahr begonnen hatten, fortgesetzt, indem wir dieselben Fragen (um drei Begriffe herum: Ausnahme, Souveränität, Grausamkeit) weiter entwickelten und denselben Leitfäden folgten. Zunächst einmal dem der onto-theologisch-politischen Filiation, die mit zahlreichen Unterschieden, aber ohne Ausnahme alle im eigentlichen Sinne philosophischen Diskurse über die Todesstrafe, das heißt zugunsten der Todesstrafe dominierte: von Platon bis Rousseau, Kant, Hegel und darüber hinaus, bis in die jüngste Moderne hinein.
Wir haben also versucht, die Gründe und die Gedankengänge zu analysieren, die eine derart unerschütterliche Dauerhaftigkeit, eine derart bemerkenswerte und bislang wenig bemerkte tief gründende Einmütigkeit gewährleisten konnten (ob es nun darum geht, das „Leben“, das „menschliche Lebende“ zu denken, oder darum, die „Souveränität“, den „Staat“, das „Politische“ im Allgemeinen zu denken).
Die Diskurse Kants und Hegels standen in dieser Hinsicht im Fokus unserer Arbeit, ob es nun um die Debatten mit Beccaria ging oder um jene im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, dem Königsmord, der Schreckensherrschaft oder der großen Tradition des Gesetzes der Wiedervergeltung. In Bezug auf Letzteres haben wir einige biblische Texte wiedergelesen und die Bemühungen untersucht, es zu rechtfertigen und in ihm gar – gegen eine gewisse traditionelle Doxa – das Prinzip selbst und den Ursprung der Gerechtigkeit zu erkennen, von Kant oder Hegel bis hin zu Levinas (einschließlich).
Dieses Gesetz der Wiedervergeltung ist auch ein grundlegender Bezugspunkt in der Debatte, die sich zwischen der Psychoanalyse und dem Strafrecht entspann. In dieser Hinsicht haben wir die Projekte einer Transformation des Strafrechts durch die Psychoanalyse befragt (insbesondere die Schriften von Reik und die Erklärungen gegen die Todesstrafe,