Die Todesstrafe II. Jacques Derrida

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Die Todesstrafe II - Jacques  Derrida


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welches Alter würde ich für meinen Tod wählen?

      Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfallen mag – und in dem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche, habe ich keine –, allein das Stellen der Frage, ja allein ihre Möglichkeit beweist, dass die Alternative, wenn es um die Frage der Todesstrafe geht – wir haben es letztes Jahr an hundert Beispielen hundert Mal gezeigt, ich werde nicht darauf zurückkommen –, dass also die Alternative nicht die Alternative Leben/Tod, leben oder sterben lautet, nicht einmal die Zeit, der gegebene Moment oder der gewollte Moment des Todes, das objektive Alter des Todes, sondern eine gewisse Modalität, eine gewisse Qualifizierung des Lebens und des Sterbens, eine Art und Weise, ein Dispositiv, ein Theater, eine Szene des Das-Leben-Gebens und des Den-Tod-, ja Sich-den-Tod-Gebens. Die Wahl besteht also nicht zwischen dem Leben und dem Tod, auch nicht zwischen zwei Altern fürs Sterben, sondern zwischen zwei Weisen und zwei Zeiten eines unausweichlichen und immer unmittelbar bevorstehenden Todes.

      3. Die dritte Frage (Was ist ein Begehren15?) trifft beziehungsweise überkreuzt sich in einem Punkt oder mehr als einem Punkt mit der ersten Frage (Was ist ein Akt?). Sie stürzt uns nicht in eine allzu bekannte Szene, in eine grandiose und kanonische Art und Weise, uns zu fragen „Was ist das, was man Begehren nennt?“, ein Wort, das Begehren [le désir], dessen ich mich im Allgemeinen so wenig wie möglich bediene, und eine Frage, auf die so viele – klassische oder moderne – Diskurse so viele interessante Antworten gegeben haben. Der Zugang zu diesem Wort und zu dieser Frage – dem Begehren – wäre16 dieses Mal vielleicht ein anderer. Es würde nicht darum gehen, einen Begriff, einen Ausdruck oder ein Wort ‚Begehren‘, von dem wir wüssten, was er oder es ist und bedeutet, auf die Frage des Verbrechens, des Mordes oder der Todesstrafe anzuwenden. Man müsste im Gegenteil versuchen, wenn es denn möglich ist, von einer bestimmten Art und Weise, die Todesstrafe, den gewaltsamen Tod, das Verbrechen, die Strafe, die Bestrafung, die Schuld und den nicht-natürlichen Tod zu denken, auszugehen, um das Feld und die Zeit des Begehrens zu isolieren.

      Die Herangehensweise wäre, schematisch betrachtet, die Folgende: Was man das Gesetz, die Legalität, die Gesetzgebung und insbesondere das die Bestrafung organisierende Recht, also das Strafrecht nennt, so wie es durch die Souveränität des Staates oder des Souveräns, durch einen König, einen Gouverneur oder einen Präsidenten ausgeübt wird (und wir werden den Präsidenten bald auf die Bühnenbretter steigen lassen, wir werden ihn in Szene setzen, wir werden ihn seinen Sitz einnehmen und somit sitzen lassen, was eben die Position des Präsidenten ist), dieses Gesetz in der Form des Rechts kann gegebenenfalls die Bestrafung des Verbrechers vorsehen, eines jeden, der diesen Akt, den man ein Verbrechen nennt, zum Beispiel einen Mord, wirklich und aktuell begangen hat; diese Bestrafung kann die Todesstrafe sein. Umgekehrt kann eine Gesetzesverfügung die Todesstrafe abschaffen, wie es, seit zehn Jahren erst, bei der Mehrheit der Staaten der Welt der Fall ist. Es gibt jedoch zwei Dinge, die keine Gesetzesverfügung, kein Recht bislang tun oder zu tun anstreben konnte. Und welche Dinge sind das? Das Begehren zu töten zu verbieten, das bloße Begehren, wenn man so sagen kann, vor oder ohne Übergang zum Akt, zumindest vor dem oder ohne das Ausagieren, wie es nach bestimmten problematischen Kriterien identifizierbar ist, denn es gibt Übergänge vom Tötungsbegehren zum Akt, die töten, ohne dass irgendein Verbrechen gemäß jener Zeichen des Akts identifizierbar wäre, die von der Gesellschaft der Menschen, so wie sie selbst sich bislang darstellt, konventionell anerkannt werden. Man kann den Mord verbieten, aber kann man das Begehren des Mordes verbieten? Den Mord zu verbieten, heißt vorzuschreiben „Du sollst nicht töten!“, das wurde gemacht. Wir hatten aber letztes Jahr im Buch Exodus gelesen17, dass Gott gleich nach den Zehn Geboten eine Art Todesstrafe für denjenigen einsetzt, wer auch immer dieses oder jenes Gebot unter dieser oder jener Bedingung übertritt. Man kann die Todesstrafe einsetzen, um den Mord zu verbieten, aber kann eine Todesstrafe das Begehren des Mordes verbieten? Man kann auch die Todesstrafe selbst verbieten, man kann sie abschaffen, aber kann man das Begehren nach der „Todesstrafe“ verbieten, das, wie wir allzu gut wissen, die gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe überleben kann, selbst in Frankreich, bei der Mehrheit der Franzosen, die Umfragen sagen es uns? Man kann also das Töten verbieten wollen. Töte nie! Gib niemals den Tod! Keinem Lebenden, dem Anderen oder dir selbst. Aber kann man das – bewusste oder unbewusste – Begehren zu töten verbieten? Was leitet [préside à] dieses Begehren? Was kann leiten/vorsitzen [présider], und Präsident, in diesem Fall sagen wollen?

      Man kann das Töten so sehr verbieten wollen, dass man die Todesstrafe abschafft. Aber kann man das Begehren oder den Zwang, die die Todesstrafe diktieren und die sie souverän leiten [y président], abschaffen?

      Was bedeutet in diesen zwei Fällen ein Akt, ein Übergangzum-Akt beziehungsweise Ausagieren [passage à l’acte]? Und was kann das Recht, das staatliche Recht zum Beispiel, mit dieser Differenz zwischen einem Begehren und einem Ausagieren machen? Zwischen einem Begehren und einem Symptom? Was kann das staatliche oder transnationale Recht mit der subtilen und listigen Ökonomie machen, die diese Beziehungen regelt zwischen einerseits dem Unbewussten und dem Bewusstsein, zwischen einem verhinderten, in die Schwebe versetzten, verbotenen oder zu einem Symptom verschobenen Akt (der auf seine Weise auch ein kaum maskierter Mord sein kann) und andererseits dem, was man eine Tat [acte], einen manifesten, sichtbaren, öffentlich bestätigten Akt nennt – denn hier kompliziert sich die Grenze: Es handelt sich nicht mehr nur um die Grenze zwischen dem realen Akt und dem möglichen Akt, zwischen dem Akt und dem Begehren, das – bewusst oder unbewusst – ebenfalls aktuell sein kann; diese Grenze ist auch die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Nicht-Öffentlichen, zwischen der Öffentlichkeit des öffentlichen Raums und einem anderen Raum, der privat oder mehr als privat sein kann, vor der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat, in einem anderen Sinne geheim, ein bewusstes oder ein unbewusstes Geheimnis (die Opposition bewusst/unbewusst, deren ich mich hier auf nicht-dogmatische Weise bediene, ohne sicher zu sein, dass ich hier bestimmbare Realitäten oder klare Begriffe bezeichne, sondern nur provisorische und wiedererkennbare Hypothesen, die zumindest das Recht haben, als Hypothesen aufgestellt zu werden, und die hier übrigens nicht zufällig als nützliche Hypothesen in Erscheinung treten; denn ich behaupte, und das ist vermutlich gar nicht so originell, dass zum Beispiel die Idee des Unbewussten, weit davon entfernt, uns dabei behilflich zu sein, uns auf dem Gebiet des Verbrechens und der Strafe, der Straflogik, der Schuldhaftigkeit, der Todesstrafe zu orientieren, < dass also > die Idee des Unbewussten im Gegenteil als Hypothese des Unbewussten aus der Erfahrung der Schuld, des Verbrechens, der Schuldhaftigkeit, der Strafe usw., kurzum des Gesetzes und des Rechts entstanden ist)18.

      Muss man den Begriff des Akts neu erfinden, neu denken, um dieser neuen Problematik stattzugeben und das Problem der Todesstrafe endlich ernsthaft anzusprechen? Ich lasse diese Fragen bis zu dem Moment in der Schwebe, da ich einen gewissen Text psychoanalytischen Typs über die Todesstrafe ansprechen werde. Ich spreche absichtlich von einem gewissen psychoanalytischen Text, weil es sich, ohne ein Text von Freud zu sein, um einen in seinem Namen geschriebenen Text, um drei von Reik redigierte Seiten in Antwort auf eine Umfrage handelt.19 Als ich während eines Vortrags vor den Generalständen der Psychoanalyse (vgl. Seelenstände der Psychoanalyse20) vorsichtig vorbrachte, dass es meines Wissens keinen Text von Freud gebe, der direkt der Todesstrafe gewidmet ist, schloss das nicht aus, dass Freud, ohne selbst zu diesem Sujet zu schreiben, jemanden beauftragte, es in seinem Namen und an seiner Statt zu tun, was zu einem Text Anlass gab, dessen Status, Sprache, Logik oder Rhetorik, in Wahrheit dessen Signatur, kurz dessen Geste, Akt und Pragmatik sehr sorgfältig analysiert werden müssen, was wir gleich zu tun versuchen werden.

      Im Übrigen möchte ich, als einen Verbindungsstein, die letzten Zeilen dieses Texts zitieren, auf den ich ausführlich zurückzukommen gedenke. Hören Sie nun, was Freud sagt, oder vielmehr was Reik im Namen von Freud, aber mit seiner Autorisierung sagt; und was ich zitiere, ist also ein von Freud autorisierter Satz, der am Ende einer langen und verlegenen Antwort aber wie ein Sprung, wie eine Entscheidung nach einem Sprung kommt. Reik sagt, im Namen von Freud, Folgendes, in Beantwortung einer Umfrage, die drei Fragen umfasste, darunter eine zur Strafe im Allgemeinen und zwei zur Todesstrafe:

      Wenn ich mir abschliessend die Freiheit nehmen darf, Ihre Hauptfrage ein wenig zu modifizieren, so würde ich sie folgendermaßen


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