Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.Mutter überlassen wurde (die hier nicht das zum Tode verurteilte Subjekt ist, das heißt das Kind, das geboren werden soll45), der Entscheidungsfreiheit, die dem zum Tode Verurteilten verweigert wird, nicht symmetrisch entgegengesetzt werden könne. Die scheinbare Parallele, auf die sich die Gegner der Todesstrafe berufen, besteht nicht zwischen dem zum Tode Verurteilten und der Mutter, sondern zwischen dem zum Tode Verurteilten und dem Kind, das geboren werden soll.
2. Andererseits möchte ich kurz die andere exemplarische Dimension in Erinnerung rufen, nämlich dass – um immer noch an der Oberfläche jener „Frage des Alters“ zu bleiben – diese Frage der Kindheit dieses Mal nicht das Alter des Kindes betreffen würde, das geboren werden soll oder dessen Geburt in gewisser Weise abgebrochen oder untersagt < wird >, es ginge also nicht um das Recht, geboren zu werden und also nicht zu sterben, sondern um jenes Recht, nicht geboren zu werden, von dem man in letzter Zeit in Frankreich gesprochen hat, in Bezug auf Nicolas, jenen schwerbehinderten jungen Mann, dessen Eltern die Ärzteschaft gerichtlich dafür belangten, falsche Diagnosen erstellt zu haben oder zur gewünschten Zeit nicht über die Möglichkeit oder die Notwendigkeit, die kommende Geburt zu verhindern, informiert oder beraten zu haben.46 Wir haben darüber gesprochen, welche Partei man auch immer ergreift in einem Prozess, der von nun an durch ein Urteil entschieden ist, das das Leben selbst entschädigt, das Am-Leben-Sein von jemandem, dessen Eltern denken, dass es besser gewesen wäre, er hätte nicht gelebt, wir haben diesbezüglich nicht mehr von einem unbedingten Recht auf Leben gesprochen, sondern von einem potentiellen Recht darauf, nicht geboren zu werden. Nicht von einem Recht, zu sterben [mourir] oder zu töten [faire mourir], sondern von einem Recht, nicht geboren zu werden. Wie kann das Subjekt dieses Rechts aussehen? Geboren zu werden oder nicht geboren zu werden, beliebten wir in Bezug [au sujet] auf die radikalste Entscheidung zu sagen, die es gibt und bei der klarer ist denn je, dass sie, auf welches Ich auch immer bezogen, die Entscheidung des Anderen ist und bleibt. Beim Suizid eines Erwachsenen weiß man nicht, ob er die freie und autonome Entscheidung des suizidalen Subjekts ist; im Fall des Embryo ist klar, dass die Entscheidung, zu sein und geboren zu werden, oder nicht geboren zu werden, die des Anderen bleibt, Vater und Mutter, die nunmehr das Recht haben, die Ärzteschaft zu beschuldigen, ihre eigene Entscheidung nicht mit Hilfe ihres Wissens erhellt zu haben. Und das Recht, zu klagen, um das Leben des Überlebenden zu entschädigen, dessen Interessen sie vertreten. Wie sieht das Subjekt dieses potentiellen Rechts aus? Wer kann es in Anspruch nehmen? Wer ist dafür rechenschaftspflichtig, und für wen, und wem gegenüber? Worin besteht die inkriminierte Tat [acte]? In dem Akt, leben zu lassen, das Leben zu geben, ein Leben, das schlimmer wäre als der Tod, und also in einem Leben-lassen, das schlimmer wäre als Den-Tod-geben?
Die – zugegeben etwas abstrakte – Formulierung von einem „Leben-lassen, das schlimmer wäre als Den-Tod-geben“, könnte, ohne dass es da die geringste Symmetrie gäbe, auch den Blick freigeben auf das Problem der Sterbehilfe [euthanasie], das heute, wie Sie wissen, neue Aktualität erfährt, in den Vereinigten Staaten und in Europa. Letztes Jahr haben wir dieses Wort, „euthanasie“47, bisweilen gepaart mit dem Wort „Anästhesie“, häufig verwendet, um all die Diskurse oder Behauptungen in Bezug auf eine Abmilderung, eine Abschwächung der Grausamkeit und eine Humanisierung der Hinrichtung, der Weisen der Tötung in Anwendung der Todesstrafe zu bezeichnen: die tödliche Injektion von Gift anstelle des Elektrischen Stuhls oder des Hängens, und auch schon die Guillotine, die von Dr. Guillotin als schmerzlos und beinahe den Genuss einer leichten Kühle am Nacken verschaffend präsentiert wurde.48 Heute, in einem viel engeren Sinne, betrifft die juristische Frage der Sterbehilfe [euthanasie] das Recht, zu töten, den Tod zu beschleunigen (aber jeder Mord besteht darin, einen Tod zu beschleunigen, der für all die zum Tode Verurteilten, die wir sind, in jedem Falle unvermeidlich ist), das Recht also, zu töten, indem man den Tod von mutmaßlich unheilbaren Patienten beschleunigt, deren Leiden danach verlangt, angesichts dessen die Patienten bisweilen selbst danach verlangen, dass es ein Ende nehme, dieses Leiden. Eine Sterbehilfe, bei der es schwierig ist, die Handlung [acte], den Handelnden [agent] und den Moment strikt auf der Linie einer unteilbaren Grenze zu definieren (die nicht spürbare Steigerung einer Dosis Morphium auf Verlangen oder ohne explizites Verlangen eines Patienten kann diese Schwelle überschreiten, ohne dass irgendjemand dafür die Verantwortung eines Mordes im eigentlichen Sinne übernehmen müsste),
eine Sterbehilfe, die bekanntlich tatsächlich öfter praktiziert wird, als man in den Krankenhäusern und anderswo vermeldet,
eine Sterbehilfe, die im Prinzip sowohl der dem Arzt durch den Hippokratischen Eid obliegenden Pflicht (zu heilen, zu retten, die Gesundheit wiederherzustellen, sich in den Dienst des Lebens und nicht des Todes zu stellen) als auch den Geboten der abrahamitischen Religionen widerspricht,
eine Sterbehilfe, über die von den Familien im Falle von alten Menschen leichter zu entscheiden ist als im Falle von Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen,
eine Sterbehilfe, deren Begriff ebenfalls einigen grundsätzlichen Fragen, insbesondere psychoanalytischer Art, schwer standhielte (dem Anderen dabei helfen, gut zu sterben; sich selbst dabei helfen, den eigenen Tod gut zu sterben. Wo fängt das an? Wo hört das auf?),
eine Sterbehilfe schließlich, die in den Vereinigten Staaten zu heftigen Debatten Anlass gibt, insbesondere am Beispiel eines Arztes, der zugibt und für sich in Anspruch nimmt, Sterbehilfe geleistet zu haben und in der Zukunft weiterhin die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen,
eine Sterbehilfe, die letzte Woche in Holland unter bestimmten Bedingungen legalisiert wurde.49
So viele Fragen, die von derselben Problematik des Akts, des Alters und des Begehrens herrühren.
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Diese drei Flugdrachen/Hirschkäfer [cerfs-volants] beziehungsweise diese drei Fragen, die auf den Flügeln eines mehr oder weniger fliegenden [volant] und mehr oder weniger langsamen [lent] Flugdrachens/Hirschkäfers eingeschrieben sind, werden weiterhin über unseren Köpfen in der Luft schweben. Wir halten ihre Schnur50 fest, aber wir ziehen heute nicht weiter an dieser Schnur. (Hier innehalten?51)
Heute, und darüber hinaus, werden wir etwas anderes [autre chose] versuchen, dieselbe Sache [la même chose], aber etwas anderes oder dasselbe anders.
Wir werden versuchen, das, was man die Todesstrafe nennt, in eine neue Perspektive zu rücken.
Auf die Erde zurückkehrend, werden wir versuchen, die Ausgangspunkte und Annäherungsbewegungen zu vervielfachen, so als hofften wir, die Angriffswinkel mehr denn je dissoziierend und diversifizierend, noch irgendeinen vitalen Kern der Frage einkreisen zu können.
Seien Sie also auf eine Reihe von multilateralen Vorstößen gefasst, über die Flügel, so als würden unterschiedliche Armeen unter mehr oder weniger einheitlichem Kommando über unterschiedliche Wege und Stellen vorrücken, auf den Flügeln und nahe dem mutmaßlichen Zentrum der Entscheidung, unterschiedliche Strategien, um den befestigten Ort des Feindes zu umzingeln, zu investir im eigentlich strategischen Sinne des Wortes52, vorausgesetzt, dass es ein solches Zentrum überhaupt gibt, und ebenfalls vorausgesetzt, dass wir hier die Todesstrafe als den Feind anprangern, den es zu neutralisieren, zu analysieren, zu paralysieren, zu entwaffnen, zu verwirren gilt. Warum sollte man all diese Vorrückbewegungen, wenn man sie beschreiben will, mit Flügeln vergleichen, mit den Flügeln einer Flugmaschine oder mit den Flügeln einer Fußballmannschaft oder vor allem mit den Flügeln einer Armee auf dem Marsch, um einen Ort zu umzingeln? Warum diese kriegstechnische Rhetorik und diese Strategenfiguren? Ich werde gleich dazu kommen.
Denn es ist nicht sicher, dass es ein Problem der Todesstrafe, ein einziges und selbes Problem gibt, das unter diesem Namen identifizierbar wäre. Dieser Name, dieser Titel, die Todesstrafe, verbirgt vielleicht eine nicht zu vereinheitlichende Vielzahl von Begriffen und Fragen. Wir dürften das nie ausschließen. Es hat sogar mächtige Versuche gegeben (die von Marx, von Nietzsche und vielleicht von Freud, mindestens), die uns auch weiterhin interessieren werden, und auf die wir noch zurückkommen werden, [mächtige Versuche], die im eigentlichen Sinne juristische, gesetzliche, strafrechtliche und staatliche Dimension