Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honore de Balzac


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Hand über die Stirn fuhr, spür­te er deut­lich einen fri­schen Luft­zug von ir­gend et­was Haa­ri­gem, das über sei­ne Wan­gen streif­te, und er schau­der­te. Da die Fens­ter­schei­ben dumpf auf­klan­gen, dach­te er, daß die­se kal­te Lieb­ko­sung, die ihn wie aus dem Gra­be an­ge­weht hat­te, von ei­ner Fle­der­maus rüh­re. Noch einen Au­gen­blick lang konn­te er im un­ge­wis­sen Schein der un­ter­ge­hen­den Son­ne die Phan­to­me, von de­nen er um­ge­ben war, un­deut­lich wahr­neh­men; dann ver­sank die­se gan­ze tote Na­tur in ein­för­mi­ges Dun­kel. Die Nacht, die Zeit zu ster­ben war plötz­lich ge­kom­men. Es ver­ging von da an noch ein ge­wis­ser Zeit­raum, wäh­rend­des­sen er kei­ne kla­re Vor­stel­lung mehr von den ir­di­schen Din­gen hat­te, sei es, daß er in tie­fe Träu­me­rei ver­sun­ken war oder daß der Schlaf ihn nach sei­ner Er­schöp­fung, nach so vie­len herz­zer­rei­ßen­den Ge­dan­ken über­mannt hat­te. Plötz­lich glaub­te er, von ei­ner schreck­li­chen Stim­me ge­ru­fen wor­den zu sein; er fuhr zu­sam­men, wie wenn wir, von ei­nem Alp­traum ge­quält, mit ei­nem Mal in bo­den­lo­se Tie­fen stür­zen. Er schloß die Au­gen, ein grel­les Licht blen­de­te ihn; in der Fins­ter­nis sah er einen röt­li­chen Kreis, in des­sen Mit­te sich ein klei­ner al­ter Mann be­fand, der das Licht ei­ner Lam­pe auf ihn ge­rich­tet hielt. Er hat­te ihn we­der kom­men noch spre­chen, noch sich be­we­gen hö­ren. Sei­ne Er­schei­nung hat­te et­was von Zau­be­rei. Auch der Uner­schro­ckens­te hät­te, der­art aus sei­nem Schlaf ge­ris­sen, vor die­sem Men­schen ge­zit­tert, der aus ei­nem der ne­ben­ste­hen­den Sar­ko­pha­ge ge­schlüpft zu sein schi­en. Die ei­gen­tüm­li­che Ju­gend­lich­keit, die aus den star­ren Au­gen die­ses ge­spens­ti­schen Grei­ses blitz­te, hin­der­te den Un­be­kann­ten, an über­na­tür­li­che Wir­kun­gen zu glau­ben; gleich­wohl ver­harr­te er wäh­rend der flüch­ti­gen Span­ne, die sei­nen som­nam­bu­len Zu­stand von sei­ner wa­chen Exis­tenz trenn­te, in dem von Des­car­tes46 emp­foh­le­nen phi­lo­so­phi­schen Zwei­fel, und ge­riet so wi­der Wil­len in den Bann der un­er­klär­li­chen Hal­lu­zi­na­tio­nen, de­ren ge­heim­nis­vol­les Da­sein un­ser Stolz ab­leug­net oder die un­ser ohn­mäch­ti­ges Wis­sen ver­geb­lich zu er­klä­ren sucht.

      Man stel­le sich einen klei­nen, ha­ge­ren, dür­ren Al­ten vor, mit ei­nem schwar­zen Sam­t­rock be­klei­det, der um sei­ne Hüf­ten mit ei­ner di­cken Sei­den­schnur zu­sam­men­ge­hal­ten wur­de. Ein gleich­falls schwar­zes Samt­käpp­chen rahm­te streng sei­ne Stirn und ließ zu bei­den Sei­ten des Ge­sichts lan­ge wei­ße Haar­sträh­nen her­ab­flie­ßen. Das Ge­wand um­hüll­te den Kör­per wie ein großes Lei­chen­tuch und ließ von der mensch­li­chen Ge­stalt nichts se­hen als das schma­le blas­se Ant­litz. Ohne den fleisch­lo­sen Arm, der ei­nem mit Stoff be­klei­de­ten Stock äh­nel­te und den der Greis em­por­hielt, um den vol­len Strahl sei­ner Lam­pe auf den jun­gen Mann zu rich­ten, hät­te man mei­nen kön­nen, das Ge­sicht hin­ge in der Luft. Ein grau­er Spitz­bart ver­barg das Kinn je­nes ei­gen­ar­ti­gen We­sens und ließ es je­nen jü­di­schen Köp­fen glei­chen, die den Künst­lern als Mo­dell für die Dar­stel­lung des Mo­ses die­nen. Die Lip­pen wa­ren so farb­los, so schmal, daß man ge­nau hin­se­hen muß­te, um in dem glei­chen Ge­sicht die Li­nie des Mun­des zu ent­de­cken. Die hohe, ge­furch­te Stirn, die hoh­len, fah­len Wan­gen, die un­er­bitt­li­che Stren­ge sei­ner klei­nen grü­nen Au­gen ohne Wim­pern und Au­gen­brau­en konn­ten den Un­be­kann­ten glau­ben ma­chen, daß der ›Gold­wä­ger‹ von Gérard Dou aus sei­nem Rah­men ge­stie­gen sei. Der Scharf­sinn ei­nes In­qui­si­tors präg­te sich in den Krüm­mun­gen sei­ner Run­zeln, den kreis­för­mi­gen Fal­ten sei­ner Schlä­fen aus und ließ auf ein tie­fes Wis­sen um die Din­ge des Le­bens schlie­ßen. Es war un­mög­lich, die­sen Men­schen zu be­trü­gen, der die Gabe zu be­sit­zen schi­en, die ver­bor­gens­ten Ge­dan­ken in den Her­zen der Men­schen zu le­sen. Auf sei­nem kal­ten Ge­sicht wa­ren die Sit­ten al­ler Na­tio­nen des Erd­balls und ihre Weis­heit ver­ei­nigt, so wie in sei­nem stau­bi­gen La­den die Pro­duk­te der gan­zen Welt an­ge­häuft wa­ren. Man konn­te dar­in die kla­re Ruhe ei­nes Got­tes le­sen, der al­les sieht, oder die stol­ze Kraft ei­nes Men­schen, der al­les ge­se­hen hat. Ein Ma­ler hät­te mit zwei Pin­sel­stri­chen zwei grund­ver­schie­de­ne Aus­drücke tref­fen und aus die­sem Ant­litz ein schö­nes Bild des Ewi­gen Va­ters oder die grin­sen­de Mas­ke des Me­phi­sto­phe­les schaf­fen kön­nen, denn eng bei­ein­an­der fan­den sich er­ha­be­ne Ho­heit auf der Stirn und schnei­den­der Hohn um den Mund. Die­ser Mann muß­te, in­dem er mit ei­ner ge­wal­ti­gen Kraft al­les mensch­li­che Lei­den un­ter­drück­te, auch alle ir­di­schen Freu­den ge­tö­tet ha­ben. Der zum Ster­ben Ent­schlos­se­ne schau­der­te, da er ahn­te, daß die­ser be­jahr­te Greis in ei­ner der Welt frem­den Sphä­re da­heim war, wo er al­lein leb­te, ohne Freu­den, weil er kei­ne Il­lu­sio­nen mehr hat­te, ohne Kum­mer, weil er kei­ne Freu­de mehr kann­te. Der Alte stand un­be­weg­lich, un­er­schüt­ter­lich wie ein Stern in ei­ner lich­ten Wol­ke. Sei­ne grü­nen Au­gen voll ei­ner son­der­ba­ren sanf­ten Bos­heit schie­nen die geis­ti­ge Welt zu er­hel­len wie sei­ne Lam­pe die­ses ge­heim­nis­vol­le Ka­bi­nett.

      »Sie wün­schen das Bild Jesu von Raf­fa­el zu se­hen, Mon­sieur?« frag­te der Greis ihn höf­lich mit ei­ner Stim­me, de­ren hel­ler, knap­per Klang et­was Me­tal­li­sches hat­te.

      Und er stell­te die Lam­pe auf den Schaft ei­ner ab­ge­bro­che­nen Säu­le, so daß der brau­ne Kas­ten im hel­len Licht stand.

      Bei den hei­li­gen Na­men Je­sus Chris­tus und Raf­fa­el ent­fuhr dem jun­gen Man­ne eine Be­we­gung der Neu­gier­de, die der Kauf­mann, der eine Fe­der in Gang setz­te, er­war­tet zu ha­ben schi­en. So­fort glitt die Ma­ha­go­ni­plat­te in ei­ner Nut laut­los ab­wärts und bot die Lein­wand der Be­wun­de­rung des Un­be­kann­ten dar. Beim An­blick die­ses un­s­terb­li­chen Wer­kes ver­gaß er die Phan­ta­sie­ge­bil­de im La­den und die Aus­ge­bur­ten sei­nes Schlum­mers, wur­de wie­der Mensch, er­kann­te


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