Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honore de Balzac


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For­men, wie kann man das Un­heil, das von eu­rem be­tro­ge­nen Wil­len kommt, der er­ha­be­nen Fä­hig­keit vor­zie­hen, das Uni­ver­sum an sich zu re­pro­du­zie­ren, das un­ge­hemm­te Glück, sich frei zu be­we­gen, ohne an die Fes­seln von Zeit und Raum ge­ket­tet zu sein, der Se­lig­keit teil­haf­tig zu wer­den, al­les zu um­fas­sen, al­les zu se­hen, sich über den Rand der Welt zu nei­gen, um die an­dern Sphä­ren zu be­fra­gen, um Gott zu lau­schen! Da­rin«, sag­te er mit er­ho­be­ner Stim­me und deu­te­te auf das Cha­grin­le­der, »dar­in sind ›Kön­nen‹ und ›Wol­len‹ gleich. Da sind eure so­zia­len Ide­en, eure aus­schwei­fen­den Be­gier­den, eure maß­lo­sen Genüs­se, eure töd­li­chen Lüs­te, eure le­bens­zeh­ren­den Schmer­zen ver­eint; denn der Schmerz ist viel­leicht nur eine all­zu hef­ti­ge Lust. Wer ver­mag wohl den Punkt zu be­stim­men, wo die Lust Schmerz wird und wo der Schmerz noch Lust ist! Tun nicht die lich­tes­ten Strah­len der idea­len Welt dem Auge noch wohl, wäh­rend jede noch so ge­lin­de Fins­ter­nis der phy­si­schen Welt ihm weh tut? Kommt das Wort Weis­heit nicht von Wis­sen? Und was ist die Tor­heit, wenn nicht das Über­maß ei­nes Wol­lens oder Kön­nens?«

      »Wohl­an denn, ich will le­ben im Über­maß!« sprach der Un­be­kann­te und er­griff das Cha­grin­le­der.

      »Jun­ger Mann, hü­ten Sie sich!« rief der Alte mit un­glaub­li­cher Hef­tig­keit.

      Gel­len­des Ge­läch­ter aus dem Mun­de des klei­nen Al­ten tön­te dem Wahn­wit­zi­gen in die Ohren wie ein To­sen der Höl­le und un­ter­brach ihn so ge­bie­te­risch, daß er ver­stumm­te.

      »Glau­ben Sie«, sag­te der Händ­ler, »daß mein Fuß­bo­den sich plötz­lich öff­nen wird, um präch­tig be­la­de­ne Ti­sche und Gäs­te aus der an­dern Welt her­auf­zu­las­sen? Nein, nein, jun­ger Hitz­kopf. Sie ha­ben den Pakt ge­schlos­sen, al­les ist ge­sagt. Von jetzt ab wer­den Ihre Wün­sche pein­lich ge­nau er­füllt, aber auf Kos­ten Ihres Le­bens. Der Kreis ih­rer Tage, den die­ses Le­der ver­kör­pert, wird je nach Aus­maß und Zahl Ih­rer Wün­sche, vom kleins­ten bis zum un­ge­heu­er­lichs­ten, im­mer en­ger wer­den. Der Brah­ma­ne, dem ich die­sen Ta­lis­man ver­dan­ke, hat mir sei­ner­zeit er­klärt, daß eine ge­heim­nis­vol­le Über­ein­stim­mung zwi­schen dem Schick­sal und den Wün­schen des Be­sit­zers ein­tre­ten wird. Ihr ers­ter Wunsch ist vul­gä­rer Na­tur, ich könn­te ihn er­fül­len, aber ich über­las­se dies den Er­eig­nis­sen Ih­rer neu­en Exis­tenz. Schließ­lich und end­lich woll­ten Sie doch ster­ben? Je nun, Ihr Selbst­mord ist nur auf­ge­scho­ben.«

      Der Un­be­kann­te, über­rascht und na­he­zu ge­reizt, von dem son­der­ba­ren Al­ten, des­sen halb men­schen­freund­li­che Ab­sicht ihm mit die­ser letz­ten Spott­re­de klar er­wie­sen schi­en, stän­dig auf­ge­zo­gen zu wer­den, rief:

      »Ich wer­de ja se­hen, Mon­sieur, ob sich mein Schick­sal in der Zeit, in der ich den Quai über­schrei­te, wan­deln wird. Aber wenn Sie nicht bloß ei­nes Un­glück­li­chen spot­ten, wün­sche ich, um mich für einen so ver­häng­nis­vol­len Dienst zu rä­chen, daß Sie sich in eine Tän­ze­rin ver­lie­ben! Sie wer­den dann das Glück ei­ner Aus­schwei­fung be­grei­fen und viel­leicht all die Schät­ze ver­geu­den, die Sie so phi­lo­so­phisch an­ge­häuft ha­ben.«

      Er ging hin­aus, ohne den tie­fen Seuf­zer zu hö­ren, den der Greis aus­stieß, durch­eil­te die Säle und lief die Trep­pen hin­un­ter, wäh­rend der paus­bä­cki­ge Bur­sche ihm folg­te und ihm ver­geb­lich leuch­ten woll­te. Er jag­te je­doch da­von wie ein Dieb, der auf fri­scher Tat er­tappt wur­de. Von ei­ner Art Wahn wie ge­blen­det, merk­te er nicht ein­mal, wie un­glaub­lich bieg­sam das Cha­grin­le­der ge­wor­den war, das sich ge­schmei­dig wie ein Hand­schuh in sei­nen fie­ber­haft be­ben­den Hän­den zu­sam­men­roll­te, so daß es in sei­ne Rock­ta­sche paß­te, wo­hin er es fast me­cha­nisch steck­te. Als er zur La­den­tür hin­aus auf die Stra­ße stürz­te, rann­te er ge­gen drei jun­ge Leu­te, die Arm in Arm vor­über­gin­gen.

      »Rind­vieh!«

      »Schwach­kopf!«

      Das wa­ren die lie­bens­wür­di­gen Re­dens­ar­ten, die sie aus­tausch­ten.

      »Ah, du bist es, Ra­pha­el!«

      »Nun, wir such­ten dich!«

      »Was, ihr seid es?«

      Die­se drei Freund­schafts­be­kun­dun­gen folg­ten un­mit­tel­bar auf die Schimpf­wör­ter, als näm­lich das Licht ei­ner La­ter­ne, vom Wind auf­fla­ckernd, die Ge­sich­ter der er­staun­ten Grup­pe be­leuch­te­te.

      »Lie­ber Freund«, sag­te der jun­ge Mann, den er bei­na­he über den Hau­fen ge­rannt hät­te, zu Ra­pha­el, »du kommst gleich mit uns.«

      »Um was han­delt es sich denn?«’

      »Komm nur, ich er­zäh­le dir die Ge­schich­te un­ter­wegs.«

      Ra­pha­el moch­te wol­len oder nicht, sei­ne Freun­de um­ring­ten ihn, faß­ten sei­ne Arme, reih­ten ihn in ihre lus­ti­ge Schar ein und zo­gen ihn in Rich­tung zum Pont-des-Arts mit sich fort.


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