Wenn sie mich finden. Terri Blackstock
Читать онлайн книгу.stehle mich aus dem Haus und zu meinem Auto. Unbeobachtet – zumindest soweit ich weiß – fahre ich davon.
Gegen fünf finde ich eine Raststätte, die geöffnet hat. Ich streiche mir den Pony in die Augen und gehe hinein. Ich kaufe ein paar Chips, etwas zu trinken und ein Einmalhandy in einer Plastikhülle, außerdem eine Telefonkarte dazu. Rasch aktiviere ich es. Das Guthaben ist schon verfügbar.
Mit der GPS-Funktion des Handys suche ich die nächste Busstation heraus, zwanzig Meilen entfernt. Der Weg dorthin ist leicht zu finden, den Hinweisschildern sei Dank. Ich erreiche den Busbahnhof, als die Sonne aufgeht.
Soll ich mein Auto einfach hier auf dem Parkplatz stehen lassen – was ein todsicherer Hinweis wäre, dass ich einen Bus genommen habe – oder es woanders parken? Ich fahre ein wenig in der Gegend herum und finde schließlich ein Parkhaus, das zu einer Bank gehört. Man muss erst zahlen, wenn man das Parkhaus wieder verlässt – was ich nicht vorhabe zu tun. Ich lasse den Wagen dort in der Hoffnung, dass viel Zeit vergehen wird, bis er auffällt. Dann laufe ich zurück zum Busbahnhof. Ich trage meine weiße Baseballkappe und lasse den Pony in die Augen hängen.
Die Sonne ist jetzt aufgegangen. Ich besorge mir einen Fahrplan und suche die Verbindungen. Ich muss zurück nach Durant, Oklahoma, denn da kann ich einen neuen Führerschein auf falschen Namen bekommen, das weiß ich. Vielleicht würde ich auch hier eine Möglichkeit finden, mir gefälschte Papiere zu besorgen, aber je weniger Dritte involviert sind, desto besser. Außerdem machen mir die Leute Angst, denen ich begegnen müsste, um an einem Ort wie diesem Kontakt zur Unterwelt zu bekommen. Der Mann in Pedro’s Place in Durant bricht zwar das Gesetz, aber er scheint ein Minimum von Anstand zu besitzen. Er macht mir keine Angst.
Es sieht so aus, als könne ich einen Bus nach Dallas nehmen und dort in eine Linie umsteigen, die über Durant fährt. Ich überlege einen Moment, bevor ich den Fahrschein löse. Hat Dylan herausgefunden, dass ich dort schon einmal einen falschen Führerschein bekommen habe? Rechnet er damit, dass ich es wieder versuche? Er … oder Keegan?
Ich glaube nicht. Sie wissen, dass ich in Durant war, aber sie wissen sicherlich nicht alles, was ich dort getan habe.
Ich denke über mein Outfit nach. Schwarzes Haar mag ich nicht besonders, aber die Auswahl an möglichen Haarfarben ist nun mal begrenzt. Ich google nach Perückenläden und finde ein paar in der näheren Umgebung. Während ich noch den Weg zur nächsten Adresse heraussuche, wird mir klar, dass ich nicht einfach in den Laden spazieren kann. Das wäre zu riskant. Es gibt Menschen, für die es normal ist, sich eine Perücke zu kaufen – Krebspatienten zum Beispiel –, aber jemand wie ich würde auffallen. Es könnte die Alarmglocken schrillen lassen.
Ich google noch einmal und finde einen Versandhändler für Perücken mit Sitz in New York. Die Kunsthaarperücken sehen auf den Fotos ziemlich gut aus. Aber trotzdem: Wenn ich eine Perücke trage, der man ansieht, dass es eine Perücke ist, werde ich nur zusätzliche Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich werde in eine Echthaarperücke investieren müssen.
Während ich durch die Produkte scrolle, finde ich lange Perücken mit Pony in Blond und Braun. Ich klicke bei beiden „In den Einkaufskorb“ und finde dann noch einen rotblonden Kurzhaarschnitt, den ich ebenfalls in den Warenkorb lege. Die Gesamtsumme liegt bei über tausend Dollar. Wie soll ich das bezahlen? In bar habe ich das Geld, aber ich habe keine Kreditkarte.
Ich rufe den Kundendienst an und frage, ob ich ihnen eine Geldanweisung schicken kann. Ja, das ist möglich, erfahre ich, und schicke die Bestellung ab. Als nach einer Zustelladresse gefragt wird, zögere ich wieder. Ich will nach Durant, also sollte die Lieferung wohl dorthin gehen. Allerdings weiß ich nicht, in welches Motel.
Ich stelle das Telefon auf laut, gehe zurück zu Google und gebe „Pedro’s Place, Durant“ ein. Das Restaurant, wo ich vor ein paar Monaten meine falschen Papiere bekommen habe, erscheint. Ich nenne die Adresse als Lieferanschrift. Dann bitte ich um Expresszusendung, sobald die Zahlung erfolgt ist. Die Kosten dafür werde ich bei der Geldanweisung berücksichtigen.
Ich gehe zur Post, immer noch mit der weißen Baseballkappe und gesenktem Kopf, um den Überwachungskameras zu entgehen, und hole mir eine Geldanweisung. Dann suche ich eine FedEx-Filiale und zahle den Betrag in bar ein, der am nächsten Morgen bei dem Perückenversender sein soll.
Es ist alles so kompliziert. Ich muss die Dinge im Voraus bedenken, alles genau planen, berücksichtigen, was schiefgehen könnte. Aber ich bin müde. Ein Teil von mir möchte einfach kapitulieren. Sollen sie mich doch finden.
Nein, das ist dumm. Ich muss mich verstecken. Ich kann nicht zulassen, dass Keegan und seine Komplizen mich töten.
Ich nehme ein Taxi zum Busbahnhof. Der Bus fährt um neun, und bis dahin sitze ich in der Behindertentoilette und warte, dass die Zeit vergeht. Ich bin so müde, dass ich nicht mal weinen kann.
Schließlich steige ich in den Bus und setze mich weit nach hinten, direkt vor das Bordklo. Ich nehme den Platz am Gang und hoffe, dass niemand den Sitz daneben beanspruchen wird. Ich stecke die Kopfhörer in mein neues Handy, aber dann wird mir klar, dass ich ja keine Musik darauf habe. Während die anderen Passagiere einsteigen, lade ich mir eine Radio-App herunter, registriere mich unter falschem Namen und suche einen Sender, der mir gefällt. Ich wünschte, ich könnte meine Lieblingsmusik von meinem eigenen Account aufrufen. Wozu gibt es all diese „Gefällt mir“-Buttons, wenn ich sie nicht nutzen kann? Vermutlich ist es mein Schicksal, dass andere die Musik für mich aussuchen.
Die Musik lullt mich in den Schlaf, noch bevor der Bus abfährt, und ich schlafe für ein paar Stunden. Als ich aufwache, ist meine Seele ernüchtert von der Tatsache, dass die Realität der letzten 24 Stunden – oder der letzten paar Wochen – nicht ausgelöscht ist.
4
Dylan
„Ich verstehe einfach nicht, wieso man dieses Mädchen jetzt als Heldin feiert.“ In den Worten von Jim Pace schwingt tiefe Trauer. „Sie ist eine kaltblütige Mörderin. Aber die Medien wittern eine Sensation und lassen es so aussehen, als hätte sie dieses Mädchen gerettet.“
Er sichert den Beitrag von Fox News über die Ereignisse in Shady Grove und lässt ihn noch einmal laufen. Keegan und Rollins sitzen ihm und Elise am quadratischen Konferenztisch in Jims Sitzungsraum gegenüber; der Polizeichef, der Leiter der Ermittlungsabteilung und ich sitzen auf der Seite gegenüber dem Bildschirm. „Sie ist in dieses Haus eingebrochen. Und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal. Sie ist eine Kriminelle, kein Messias.“
Ich sitze schweigend da, starr, betrachte meine Hände. Wenn ich sie jetzt verteidige, ist alles vorbei. Sie werden mir den Fall aus der Hand nehmen und dann habe ich keine Chance mehr, sie zu schützen.
„Dylan, Sie waren doch dort“, sagt Elise mit Tränen in den Augen. „Können Sie der Presse nicht sagen, was für eine schreckliche Person sie ist? Können Sie nicht erklären, was sie unserem Jungen angetan hat?“
Ich hole tief und stockend Luft. „Ich glaube nicht, dass es uns helfen würde, sie zu finden, wenn ich vor die Presse gehe“, sage ich. „Ich muss im Hintergrund bleiben. Wenn man mich erkennt, könnte jemand sie warnen, sobald ich ihr auf den Fersen bin.“
„Was ist sie? Eine Agentin?“, fragt Jim. „Wie kann sie überhaupt so lange einer Verhaftung entkommen? Es ist ja fast, als sei sie von der CIA ausgebildet oder so. Ich verstehe das nicht. Sie hat doch ganz normal hier gelebt, vor aller Augen. Ist zur Arbeit gegangen, hat mit Leuten geredet.“
„Ihr Dad war Polizist“, sage ich. „Sie muss das eine oder andere aufgeschnappt haben.“
„Jim, die lokalen Medien da unten haben nicht gezeigt, was sie hier gebracht haben“, sagt Polizeichef Gates. „Aber glauben Sie mir, jetzt, wo die Sache landesweite Aufmerksamkeit erregt, wird man sie erkennen, egal, wo sie ist. Irgendjemand wird sie anzeigen.“
„Da bin ich nicht so sicher“, entgegne ich. „Sie wird ihr Aussehen verändern. Vermutlich hat sie das schon.“
„Trotzdem“, sagt Elise. „Man erkennt sie an