Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner
Читать онлайн книгу.dass diejenigen irgendwelche Aktivitäten, Sprechakte inbegriffen, setzen müssen oder sollten. Es genügt, wenn jemand Wohlwollender da ist, der einen in seiner Trauer aushält und damit bestätigt.
Genau dieses erahnte Urvertrauen bergender Zweisamkeit – das Eins-Sein mit einem duldsam gewährenden Du – suchen all diejenigen, denen Einsamkeit bewusst geworden ist.
Sigmund Freud (1856–1939) ist mit diesem »ozeanischen Gefühl« von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, das er mit der Quelle der Religiosität in Verbindung brachte15, sehr kritisch umgegangen: Er hat es als Regression – also als Rückschritt auf frühkindliches Verhalten – und als auf Gott projizierte Vatersehnsucht16 gedeutet. »Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.«17 (Hervorhebung von mir – R. A. P.) Ich sehe das nicht als Drohung, sondern als Chance! Was ich aber sehr wohl als Gefahr vermuten kann – und was in der Ozean-Metapher sinnhaft enthalten ist –, ist der Gedanke daran, dass man sich im Ozean zwar lustvoll dem Getragensein hingeben, dass man aber auch überflutet und von Todesangst ergriffen werden kann.
Freud, der mit zunehmendem Alter die Welt immer pessimistischer sah, gehörte offensichtlich nicht zu den Menschen, die dieses Aufgehen im anderen als positive Ich-Leistung bewerten. Denn es liegt ein Unterschied darin, ob man jemand anderen aus regressiven Abhängigkeitsbedürfnissen sucht – oder ob einem jemand zufällt und man stark und sicher genug ist, »ein Fleisch« zu werden.18 Es ist etwas anderes, sich in jemand anderen zu »entleeren« und bei Trennung nur mehr ein halber Mensch zu sein – oder sich »ganz einzubringen« und dennoch wieder ganz zu sein, wenn man sich räumlich trennt.
Zu diesen urtümlichen Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten treten aber noch die durch »Propaganda« künstlich hervorgerufenen: Waren es früher die von Hof zu Hof ziehenden Minnesänger, die nicht nur durch die Inhalte ihrer Lieder, sondern auch mit tiefen Blicken und samtigen Stimmen Liebessehnsüchte bei den durch grobe Männer traumatisierten Frauen zu wecken wussten, sind es heute Film und Fernsehen sowie Schnulzen und Dreigroschenromane, die vor allem bei weiblichem Publikum die Sehnsucht nach seelischer Ergänzung hervorrufen.
Gedankenmuster
Der italienische Soziologieprofessor Francesco Alberoni (* 1929) sieht denn auch eine Geschlechterdifferenz, wenn es um die Zufuhr erotisch wirksamer Impulse geht.
Der Mann, schreibt der Autor, »imaginiert die Frau als mit typisch männlichen Impulsen ausgestattetes Wesen«, was bedeutet: »Das Begehren ist stets präsent und wird stets befriedigt. Pornografie ist das erotische Gegenstück zum Schlaraffenland, jener Fantasie, in der der Hungrige Flüsse aus Milch, Wein und Honig sieht und Bäume erblickt, an denen statt Früchten gebratene Hühner und Würste hängen.« – »In diesem Universum ist kein Platz für irgendein anderes Gefühl, irgendeine andere Art von Beziehung.«19 Dieses Image werde nicht nur durch die Männergruppe, sondern auch medial vermittelt, erklärt der Wissenschaftler – aber ebenso würden Frauen analog mit »rosaroter Literatur«20 bedient: »In Serienschnulzen lösen sich Schicksalsschläge immer als Missverständnisse oder Zweifel auf.« – »Eine solche Erotik hat nahezu nichts mit Sex zu tun. Sexuelle Beziehungen dürfen aber vorkommen. Vor allem in den neueren Romanen dieser Art ist die Heldin auch im körperlichen Sinn eine geradezu verzweifelt Liebende. Aber die tiefen Gefühle – also das, was an diesen Geschichten spezifisch erotisch ist – kommen nicht aus der sexuellen Beziehung, sondern aus Sehnsüchten und Schaudern.«21 Ich ergänze: und ebenso aus den audiovisuellen Modellen – beispielsweise aus der TV-Werbung für Internet-Partnerbörsen.
Jede erfolgreiche Werbung propagiert Verhaltensvorbilder, denen die Adressaten gleichen wollen. Gemeinsam statt einsam – und der Weg dorthin geht über den Kauf eines bestimmten Produkts oder einer Dienstleistung, und daher richtet sich die Inszenierung von Beziehungsidyllen an die Zielgruppe Frauen, während beispielsweise bei Deodorants für Männer vorgegaukelt wird, dass ihnen alle Frauen, betört vom Duft der herben Männlichkeit, nachlaufen würden – und man(n) wie in Alberonis Schlaraffenland gar nichts dazu tun müsse.
In der Realität sieht alles dann anders aus. Denn wenn der paarungsinteressierte Mann auf die beziehungsfreudige Frau trifft, sind deren beider Nervengespinste bereits voll von den medialen Vor-Bildern und werden unbewusst nachgeahmt. Fehlt aber ein Modell, macht sich ein Gefühl von Unbeholfenheit breit, das nur zu oft zu einer Art Schockstarre führt: Ideal-Ich und Real-Ich sind unbeachtet auseinandergedriftet und haben eine Leere eröffnet, die den Rückzug in Einsamkeit fördert – außer man hebt diese Situationsreaktion ins Bewusstsein und mag sich selbst, auch wenn man nicht dem propagierten Modell entspricht. Auch das zählt zur Selbstliebe.
Wir alle haben eine Biografie der Einsamkeit.
»Tritt ein Mensch in unseren Wahrnehmungshorizont, dann aktiviert er, ohne es zu beabsichtigen und unabhängig davon, ob wir es wollen oder nicht, in uns eine neurobiologische Resonanz«, betont Joachim Bauer. »Verschiedene Aspekte seines Verhaltens wie Blickkontakt, Stimme, mimischer Ausdruck, Körperbewegungen und konkrete Handlungen rufen in uns ein Spektrum von Spiegelreaktionen hervor«, und er präzisiert: »In Resonanz begeben sich Nervenzellnetze, die auch dann aktiv werden würden, wenn wir selbst täten, was wir gerade bei einem anderen Menschen beobachten.« Betroffen sind die Gehirnpartien, die den Körperempfindungen wie auch der Handlungsplanung dienen, und diese sind wiederum mit dem Emotionszentrum des Gehirns verbunden.22 Kurz gesagt: Gefühle sind ansteckend – selbst wenn sie von Schauspielern auf der Videowand stammen. Denn diese Art von unbeabsichtigtem und unbewusstem »Mentaltraining« erfährt auch, wer Filmfiguren zusieht, nicht nur realen Anwesenden – außer man distanziert sich bewusst von abgelehnten Verhaltensweisen.
Sehen wir traute Zweisamkeiten – oder Geborgenheit in Familien oder anderen Gruppierungen –, egal ob live oder auf einem Bildschirm, löst das bei uns neuronale Aktivitäten aus: Je nach Biografie werden wir sehnsüchtig, neidisch, verbittert oder zornig (oder wie auch immer wir unsere noch namenlose Emotion benennen).
Liebesentzug
Denn auch zu einer bewussten Ablehnung solcher Imitations-Verlockung benötigt man eine erfolgversprechende Neurosignatur für Verweigerungsverhalten – nach innen wie nach außen. Man muss innerlich die Botschaft hören »Ich will das nicht!« und nach außen eine sozial verträgliche Sprachform erwerben. Genau deren Ansätze werden jedoch »trotzenden« Kleinkindern mit Schimpf, Spott und Strafe strikt verboten, anstatt sie auf prosoziale Formen zu korrigieren.
Zu den häufigsten Strafen für kleine Kinder gehört der sogenannte Liebesentzug: keine Süßigkeiten, keine Spiele, keine Blicke, keine Worte. Da Kindern lange Zeit der Vergleich mit den Verhaltensweisen in anderen Familien fehlt, kennen sie keine Alternativen; sie vertrauen der Allmacht und Allweisheit ihrer Erziehungspersonen und suchen die Schuld für deren Ablehnung bei sich selbst – und manche erkennen nie, dass sie Opfer von Unsicherheit und Unwissenheit oder aber Unbeherrschtheit sozial inkompetenter Menschen geworden sind. Sie denken dann: Es muss an mir liegen, dass man mich nicht mag. Und: Man kann mich einfach nicht mögen.
Viele Sozialphobien und in deren Folge Einsamkeit wurzeln in erlebter mangelnder Fürsorge derjenigen, deren Obhut man anvertraut war. Solche Mängel finden sich nicht nur bei Eltern und anderen nahen Anverwandten – sondern ebenso bei Angehörigen von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen wie auch bei vielen Arbeitgebern … und auch bei allen, die Zeugen von solch traumatisierendem Fehlverhalten werden und wegschauen.
Als Trauma werden meist nur Folgeerscheinungen von massivem Gewalterleben, Unfälle inbegriffen, verstanden. Dabei wird übersehen, dass man als Trauma jedes Erleben klassifizieren kann, zu dessen Bewältigung adäquate Verhaltensmuster fehlen.
Tiere reagieren mit Kampf, Flucht oder Totstellen, wenn sie in ihrer Sicherheit beeinträchtigt werden. Ich nenne das das »Stammhirn-Repertoire«. Menschen hingegen besitzen zusätzlich