Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner

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Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner


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motivieren sollte, wie Arbeitsteams, Nachbarschaften und leider auch in Familien, wird versucht, Menschen mittels gewaltsamer Ausgrenzung oder Ausschlussandrohungen zur Anpassung zu zwingen. Vor allem Frauen und all diejenigen, von denen man keine körperliche Gegenwehr erwarten musste.

      Es ist knapp hundert Jahre her, dass Frauen von Bildung, Selbstbestimmung und politischen Rechten ausgeschlossen waren, und das mit Berufung auf Natur und Gottgewolltheit, später mit absurden Argumenten wie dem vom kleineren Gehirngewicht im unfairen Vergleich zu dem des – meist größeren und schwereren – Mannes begründet wurde (statt die Vernetzungsdichte zu bewerten, von der bekanntlich die Intelligenz abhängt). Wie es den Frauen psychisch ging, in denen ein wissensdurstiger Geist, ein kämpferisches Naturell und ein starkes Herz brannten, war uninteressant – sie hatten sich der verordneten Rollenteilung zu fügen. Vielen blieb nur der Rückzug in eine einsame Traumwelt.

      Behilflich bei diesen mentalen Vergewaltigungen rollenbildferner Personen waren immer schon die Medien, denken wir etwa an Friedrich Schillers »Lied von der Glocke«, das meine Generation noch auswendig lernen musste, damit die Ideologie sich nur ja im semantischen Gedächtnis verankert. Darin finden sich die rollenzuweisenden Zeilen: »Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben,| Muss wirken und streben | Und pflanzen und schaffen | Erlisten, erraffen | Muss wetten und wagen | Das Glück zu erjagen.« Und »Drinnen waltet | Die züchtige Hausfrau, | Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise | Im häuslichen Kreise, | Und lehret die Mädchen | Und wehret den Knaben, | Und regt ohne Ende | Die fleißigen Hände, | Und mehret den Gewinn | Mit ordnendem Sinn.«27

      Männer, die das soldatische Heldentum verweigerten, wie auch Frauen, die nicht daheim walten wollten, sondern etwa die Natur studieren und ihre Heilmittel, wurden verfolgt und ermordet – oder sie vermieden die als verständnislos bzw. feindlich erlebte Gesellschaft. Diese Angst vor Vernichtung lebt noch immer im kulturellen Gedächtnis und wird durch die Werke von Dichtern und Schriftstellern am Leben erhalten.28

      Rollenteilung wird noch immer von vielen als naturgegebene Arbeitsteilung verteidigt. Dabei ist sie ein historisch-politisches Konstrukt, das in bestimmten Zeiten und Regionen von den jeweils Herrschenden nach deren Interessen – beispielsweise zur Sicherung legitimer Nachkommenschaft oder der Verheiratung aus ökonomischen oder dynastischen Gründen gegen den Willen der Frau – verordnet wurde. Dass dazu mögliche Liebespaare in Isolation gehalten werden mussten, war klar; wohin das führen konnte, zeigte William Shakespeare in seinem Drama Romeo und Julia – aber auch so mancher Bericht in der Tagespresse über die »mittelalterlichen« Gebräuche in anderen Kulturen.

      Wie ein afrikanisches Sprichwort sagt:

      Der Mensch ist dem Menschen ein Heilmittel.

      Das Naturargument aber, so schreibt der im vorigen Jahrhundert viel gelesene und zitierte Jurist und Psychologe Volker Elis Pilgrim (* 1942), wird immer dann bemüht, wenn etwas nicht kritisiert werden soll: »Wenn eine Gesellschaft etwas als natürlich erklärt, will sie damit nur ausdrücken, dass sie etwas für unangetastet wünscht. Dagegen bedeutet das Etikett ›unnatürlich‹, dass das damit gekennzeichnete Verhalten missbilligt wird und von jedermann angegriffen werden kann.«29 Auch damit soll unerträgliche Einsamkeit als Mittel zum Anpassungsdruck gezielt hervorgerufen werden.

      2Die Einsamkeit der Lebenskrisen

       Warum man in Krisenzeiten Beistand braucht

      Auch wer der Selbstbestimmung fähig ist,

      kann sich seiner Wünsche und Absichten,

      Hoffnungen und Erwartungen so wenig ein für alle Mal sicher sein

      wie der äußeren Lebensumstände, in denen er sich

      in seiner jeweiligen Gegenwart befindet.

      MARTIN SEEL30

      Bevor wir mit Mimik, Gestik und vor allem Worten zu dem jeweiligen Kulturstandard der Region und Zeit, in die wir hineingeboren wurden, diszipliniert (von lat. discipulus, Schüler) werden – und dadurch viel von unserem inneren Ahnen und Erkennen verlieren –, spüren wir schon intuitiv, ob wir willkommen oder in der zur Gesundheit nötigen Akzeptanz gefährdet sind. Das haben die Erfahrungen der französischen Säuglingspsychoanalytikerin (Ja, so etwas gibt es! Und die Heilungserfolge beweisen die Notwendigkeit und Wirksamkeit!) Caroline Eliacheff gezeigt.31

      Als erwachsene Menschen können wir zwar mit der Zeit Übung darin gewinnen, Ablehnung durch andere zu ignorieren – aber wenn wir üben, unsere Wahrnehmung einzuschränken, verlieren wir die Kompetenz der Achtsamkeit und damit auch die Achtsamkeit uns selbst gegenüber. Deswegen sind hier Vorbilder und erklärender Beistand so wichtig, damit wir uns weiter entwickeln können und »über uns hinauswachsen«.

      Es zählt zur Selbstfürsorglichkeit zu erkennen, wann es Zeit ist, sich aus dem Zusammensein mit anderen zurückzuziehen – vor allem, wenn die anderen der Gesundheit schaden. Aber wer seit seiner Kindheit permanent um Zuwendung ringt, wird eher meinen, »mehr desselben«32 werde endlich den erwünschten Erfolg bringen, anstatt sich zuerst einmal zumindest eine Erholungspause zu gönnen – und dann etwas anderes zu probieren.

      »Die Fähigkeit, allein zu sein, hängt davon ab, ob ein gutes Objekt in der psychischen Realität des Individuums vorhanden ist«, betont der bedeutende Kinderanalytiker Donald W. Winnicott (1896–1971).33 Das heißt, es muss am Beginn des Lebens zumindest eine neuronal prägende Erfahrung von kontinuierlicher Akzeptanz, Zuwendung und Verstehen erlebt worden sein. Logischerweise wäre dies die Aufgabe der biologischen Mutter, an deren Körper das Neugeborene ja bereits monatelang »von innen« eingewöhnt wurde. Nun soll es »Gewöhnung« nach der Geburt »von außen« lernen, um zunehmend längere Abwesenheiten der Mutter ertragen zu können. Das braucht üblicherweise ein Jahr und viel geduldige Zuwendung. Wer aber selbst keine »Neurosignatur der Liebe« oder auch nur »der Pflicht« besitzt, wird dieser Aufgabe nur schwer gerecht werden.

      Dort, wo eine Großfamilie auch in Hausgemeinschaft lebte, fand sich vermutlich immer irgendjemand – Geschwister, Großeltern –, der zuverlässig auf die erkennbaren Bedürfnisse eines Kleinstkindes reagierte; für die heutigen Klein- oder Rumpffamilien bedeutet dies fast immer eine Überforderung – wenn man erwartet, dass diese Zuwendung nur von Blutsverwandten geleistet werden sollte. Es ist wichtig, dass jemand gegenwärtig und verfügbar ist, ohne Forderungen zu stellen, denn die Fähigkeit zum echten Alleinsein hat die frühe Erfahrung des »Alleinseins in Anwesenheit eines andere Menschen« zur Grundlage, so das Ergebnis der Forschungen Winnicotts.34

       Reifungsschritte

      Jedes Kind hat seine eigene Zeit, in der es den jeweils nächsten Reifungsschritt vollzieht. Wird es »vor der Zeit« forciert, wird es später kompensierende Symptome entwickeln – allerdings sind solche ohnedies so allgegenwärtig, dass dies kaum jemand mehr als Besonderheit wahrnimmt. Nur wenn jemand selbst unter Einschränkungen seiner Verhaltensmöglichkeiten leidet und sich in Psychotherapie auf die Suche nach seinem Seelengrund begibt, wird er oder sie die Zusammenhänge erkennen. Laien fehlt die qualifizierte Wahrnehmung, und populäre Symptomdeutungsbücher führen leider zu Fehleinschätzungen und behindern die persönliche Weiterentwicklung.

      In einer gelungenen Therapie – es gibt leider auch misslungene – werden diese fehlenden »guten, inneren Objekte« nachentwickelt. Die »affektive Regulierung« – das Einwirken auf steuerungsbedürftige Emotionsaufwallungen – kann dann zunehmend durch innere Modelle ersetzt werden, sodass ein »verinnerlichtes Beziehungsgefühl« entsteht, das unterschiedliche Qualität haben und selbst auf- oder abgebaut werden kann35; das kann auch helfen, berechtigte Rückzugsimpulse auf psychischen Erholungsbedarf zurückzuführen – und nicht auf den Vorwurf von Fehlverhalten, wie es einem oft von anderen als Selbstrechtfertigung unterstellt wird.

      Menschenjunge kommen »unfertig« zur Welt: Bis ihre Muskulatur stark genug ist,


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