Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge

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Wunsch Traum Fluch - Frances  Hardinge


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wäre. Magwhite war tabu.

      Es gab hier nicht viel zu sehen, aber das Tabu machte es aufregend. Die Dohlen vor dem mit Brettern vernagelten Postgebäude mit Pommes Frites zu füttern war viel interessanter, als gewöhnliche Vögel in einem gewöhnlichen Park zu füttern. Seit Beginn der Sommerferien waren die verbotenen Ausflüge nach Magwhite, wo sie am Kanal ein Picknick veranstalteten, beinahe zur täglichen Routine geworden.

      Magwhite gehörte ihnen, aber im Augenblick wäre Ryan am liebsten meilenweit weg gewesen.

      Josh stapfte mit gesenktem Kopf zu den anderen beiden zurück. Sein wildes blondes Haar, das wie eine Schrubberbürste abstand, war dunkel vom Regen. Er betrachtete seinen Fuß und schien das Gesicht zu verziehen. Vielleicht hatte er sich bei dem Tritt gegen den Laternenpfahl wehgetan. Dann schaute er hoch und Ryan sah, dass er grinste.

      «Kein Problem.» Josh zuckte mit den Achseln und wischte mit dem Ärmel den Regen von den gelb getönten Gläsern seiner Sonnenbrille. «Wir nehmen den nächsten.»

      Chelle biss sich auf die Unterlippe und zog die Mitte der Oberlippe so weit nach unten, dass sie aussah wie ein kleiner weicher Schnabel. Alles an ihr sträubte sich, Josh zu widersprechen, denn sie vergötterte ihn mehr als alles andere auf der Welt, aber wie immer schienen die Worte einfach ungehindert aus Chelle herauszuträufeln wie Wasser aus einem undichten Wasserhahn.

      «Aber … das geht nicht. Das war der letzte Bus der Cityline. Unsere Fahrkarten gelten nicht für die Überlandbusse, und wir haben kein Geld mehr, um neue Fahrkarten zu kaufen, nicht für alle … wir sitzen fest …»

      «Nein, tun wir nicht.» Josh lächelte immer noch. «Ich habe einen Plan.»

      Der Plan war einfach. Der Plan war merkwürdig. Aber es war Joshs Plan, und deshalb musste er funktionieren.

      Hinter der Mauer des Parkplatzes, der zum Supermarkt gehörte, senkte sich ein lang gestreckter, baumbestandener Abhang bis zum Ufer des Kanals. In diesem Wäldchen tummelten sich ausgebüxte Einkaufswagen, in deren Rädern sich büschelweise Grashalme verfangen hatten. Das Drahtgitter der Körbe war mit Schlingpflanzen bewachsen. Joshs Plan sah vor, einen von ihnen aus dem Wald zu holen, ihn zum Supermarkt zu bringen, ihn dort wieder in die Reihe der anderen Einkaufswagen einzuklinken und die Münze aus dem Schieber am Griff zu holen.

      Plötzlich war das Abenteuer wieder da. Das Trio kletterte über die Mauer in das Wäldchen und ging auf Beutezug.

      Es war ein seltsamer Wald, umso mehr, als das Licht nun stetig abnahm. Ryan gefiel besonders der Müll. Vergilbte Zeitungen kuschelten sich in Astgabeln, wie Nester aus mit Buchstaben bepudertem Herbstlaub. Von einem breiten Thron aus verfaulter Eichenwurzel schlängelte sich dunkler Efeu und behütete einen Schatz aus zerbeulten Blechdosen. Die feinen Verästelungen eines schaukelnden Zweiges hatten sich ordentlich in die Finger eines roten Wollhandschuhs geschoben, sodass der kleine Baum aussah, als warte er nur darauf, dass ihm eine zweite Hand wachse, damit er applaudieren könne.

      «Ryan, mach deine Adleraugen auf und such uns einen Einkaufswagen», sagte Josh, und in Ryan stieg ein unbehagliches Gefühl von Stolz und Zweifel auf. Er war sich nie sicher, ob Josh sich über ihn lustig machte oder nicht. «Er sieht anders als wir, Chelle. Seine Augen, die sind nämlich verkehrt herum. Man sieht’s ihm bloß nicht an.»

      Chelle kicherte leise, aber in der Dunkelheit wirkte ihr nur undeutlich erkennbares Gesicht nervös. Ihre großen, weit auseinanderstehenden Augen waren Fenster, die in eine Welt voller Zweifel und Verblüffung blicken ließen.

      «Es stimmt.» Josh ließ nicht locker. «Er blinzelt aufwärts, weißt du? Natürlich nur, wenn man nicht hinguckt. Aber jetzt, im Dunkeln, da wette ich, dass er aufwärts blinzelt. Stimmt’s, Ryan?»

      Ryan wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er stapfte durch den Wald und tat so, als hätte er nichts gehört. Chelle Angst zu machen war kinderleicht, und Josh schien es Vergnügen zu bereiten, sie auf den Arm zu nehmen. Ryan vergaß oft, dass Chelle älter war als er. Er selbst war ein «Kann-Kind»; man hatte ihn früher als seine Altersgenossen in das eiskalte Wasser der Sekundarstufe geworfen. Dass er klein, hager und voller Sätze war, die in seinem Kopf wunderbar klangen, sich aus seinem Mund aber altklug und besserwisserisch anhörten, hatte die Sache noch schlimmer gemacht. Mit Chelle verband ihn eine Allianz der Verzweiflung. Sie war tapsig und hilflos wie ein Welpe, und die Blässe ihres Haars und ihrer Haut wirkten, als hätte man sie zu oft in die Waschmaschine gesteckt, wo sie beim Spülgang all ihre Farbe und ihre Selbstsicherheit verloren hatte. Das machte sie zu einer verlockenden Zielscheibe des Spotts für alle Schläger und Stänkerer in der Klasse. Sowohl Ryan als auch Chelle waren heilfroh gewesen, dass sie jemanden gefunden hatten, mit dem sie reden konnten, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass Chelle offensichtlich nicht über die Fähigkeit verfügte, mit dem Reden aufzuhören.

      Josh war ihre Rettung gewesen. Er genoss den Vorteil des Älteren – zwischen der fünften und der sechsten Klasse liegen Welten! –, aber ganz abgesehen davon wusste kein Großmaul in der Schule, was er von Josh halten sollte. Josh mit seinem Katzengrinsen und dem knochentrockenen Humor. Spott und Hohn schienen von den gelben Gläsern seiner Sonnenbrille abzuprallen, bis den Spöttern die Puste ausging. Irgendwie gelang es ihm, die Menschen für sich zu gewinnen, als ob jeder an dem Scherz teilhaben wollte, der seine Mundwinkel stets nach oben wandern ließ. Josh hatte sich an Ryan erinnert, was Ryan maßlos überrascht hatte; sie waren zusammen in der Grundschule gewesen. Und plötzlich standen sowohl Ryan als auch Chelle unter seinem kapriziösen Schutz. Er nahm sie unter seine Fittiche und bewahrte sie wie ein unsichtbares Amulett vor den schlimmsten Mobbing-Attacken. Aus diesem Grund, so vermutete Ryan, nahm Chelle Josh die Neckereien nicht übel, aber trotzdem war ihm unbehaglich dabei.

      Normalerweise dümpelten immer ein halbes Dutzend Einkaufswagen in dem kleinen Wald. Aber an diesem Abend schienen die Wagen zu ahnen, dass sie Gefahr liefen, wieder in die Gefangenschaft zurückgebracht zu werden. Sie hatten sich alle versteckt. Endlich trieb Ryan einen am Ufer des Kanals auf. Er lag auf der Seite, als ob er auf seiner hastigen Flucht umgefallen und nicht mehr auf die Rollen gekommen war. Zu dritt zerrten sie ihn zur Mauer, wobei sich der Wagen in jeder Ranke und jedem Grasbüschel festklammerte, in dem verzweifelten Bemühen, ihrem Griff zu entkommen.

      Erst als sie die Mauer erreichten, die das Wäldchen vom Parkplatz des Supermarktes trennte, erkannten sie den Webfehler in Joshs Plan.

      Der Untergrund auf der Waldseite der Mauer lag viel tiefer als auf der Seite des Parkplatzes. Sie waren diese Mauer so oft hinauf- und hinuntergeklettert, dass ihnen gar nicht mehr auffiel, wie hoch sie war. Jetzt starrten sie abwechselnd traurig den Einkaufswagen an und die Mauer hinauf, die sich hoch über ihnen auftürmte und sie auszulachen schien.

      «Wir können es schaffen», meinte Josh nach einer kurzen Weile. «Alles eine Frage der Technik.»

      Er änderte kurzerhand seinen Plan, und die drei gingen auf die Suche nach allem, woraus man ein Seil knüpfen konnte – ein Absperrband aus Plastik, ein verschimmeltes T-Shirt, ein Stück Draht. All das knoteten sie zusammen und schlangen ein Ende fest um den Einkaufswagen. Das andere Ende wurde über einen niedrig hängenden Ast geworfen. Chelle und Ryan ergriffen das behelfsmäßige Seil, das auf der anderen Seite des Astes herunterbaumelte. Josh, der bei Weitem der stärkste der drei war, kletterte auf die Mauer und wartete darauf, dass Chelle und Ryan den Wagen hochhievten, damit er ihn packen und über die Mauer ziehen konnte.

      Das kann nicht funktionieren, dachte Ryan, als er anfing, an dem «Seil» zu ziehen. Doch dann stieg die Seite mit dem Handgriff in die Höhe und schwang leicht hin und her. Der Plan funktionierte.

      Der Flug des Einkaufswagens war ein herrlicher Anblick. Das Drahtgeflecht schlug wiederholt gegen den Baumstamm, und die Räder hinterließen dunkle Narben in den Flechten, die den Stamm überzogen, aber er schwang immer höher, jedes Mal ein paar Zentimeter. Und dann, als Josh ihn beinahe mit den Fingerspitzen erreichen konnte, schlug er gegen einen tiefen Zweig und verschwand zur Hälfte im Laub. Sie zerrten und zogen, das Geäst zitterte und bebte und goss träge Tropfen auf ihre erhobenen Gesichter. Ein dünner Zweig hatte sich unter dem blauen Plastik des Kindersitzes verhakt und gab den Einkaufswagen nicht frei.

      Schließlich


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